Tag 52 – Mikrofon

Das Wochenende ist relativ hörereignislos. Allerdings habe ich das Gefühl, schlechter zu hören als sonst: Alles klingt etwas dumpfer und ein bißchen so, als hätte ich Wasser im Ohr. Das ist natürlich Quatsch, denn selbst mit Wasser im Ohr höre ich mit Implantat nicht anders als sonst – der Schall geht ja nicht mehr durch das Ohr, sondern über den Soundprozessor direkt auf den Hörnerv. Weil weder neue Batterien noch das Zurücksetzen des Soundprozessors auf die Standardeinstellungen hilfreich ist, wechsele ich die Mikrofonabdeckung des Soundprozessors aus. Dieses Abdeckung soll spätestens nach drei Monaten Tragezeit gewechselt werden, weil sie durch Staub, Schweiß oder sonstige Umwelteinflüsse beeinträchtigt wird und den Schall nicht mehr einwandfrei in den Soundprozessor leitet.

Schön ist, dass es sie in verschiedenen Farben gibt; schade ist, dass ich von Med-El nicht das bestellte Grün bekommen habe. Mein Soundprozessor ist jetzt also erst einmal komplett weiß, bis ich nächste Woche im Med-El Care-Center eine neue, grüne Abdeckung bekommen kann. Der zweite Soundprozessor für die linke Seite wird ebenfalls weiß werden – hier werde ich dann entweder eine blaue oder orangefarbene Mikrofonabdeckung auswählen, damit ich die Geräte nicht verwechseln kann.

Tag 50 – Bitte wenden

Nach einem problemlosen Hotel-Checkout am Morgen, bei dem ich alles auf Anhieb verstehe und einem halbstündigen Gespräch mit meiner Vorgesetzten, das ebenfalls ohne jegliche Verständnisprobleme verläuft, höre ich mir auf der Arbeit einen englischsprachigen Vortrag an. Englisch ist nach wie vor schwierig: Ich verstehe einzelne Wörter und auch Sätze, aber kann noch keinen Vorträgen flüssig folgen – auch dann nicht, wenn ich direkt neben dem Vortragenden sitze. Da liegt noch viel Hörarbeit vor mir.

Zum Mittagessen treffe ich einen gehörlosen Kollegen, den ich mit Implantat schlechter verstehe also vorher. Vermutlich liegt es daran, dass mein Hören mittlerweile stark auf Konsonanten ausgerichtet ist. Mein Kollege spricht Konsonanten – ähnlich wie ich vor der Implantierung – schlecht bis gar nicht aus und das Verstehen fällt mir heute deutlich schwerer als sonst.

Etwas später geht es dann zurück Richtung Heimat – vor mir liegen wieder 6 bis 7 Stunden Fahrt. Die Rückfahrt nach Hause ist meistens anstrengender als die Hinfahrt am Montagmorgen, weil die Straßen deutlich voller sind und ich durch den Feierabendverkehr muss. In Staus stehe ich dennoch recht selten, weil ich Google Maps für die Navigation verwende, das via Android Auto direkt auf dem Fahrzeugmonitor meines Autos angezeigt wird. Die Verkehrsführung und Stau-Umgehung ist dabei um Längen besser als beim festeingebauten Navigationssystem meines Autos. Außerdem kann ich Spotify direkt über das Fahrzeuginformationssystem nutzen und damit prima beim Autofahren Musik hören.

Akustische Hinweise für die Navigation habe ich bislang nie verwendet; meine Navigationssysteme waren immer stumm geschaltet. Auch die Sprachsteuerung in meinem Auto habe ich bislang nie benutzt, weil ich die akustischen Rückmeldungen nicht verstanden habe. Mein Auto hat mich bislang auch schlecht verstanden, so dass man sich einen Dialog mit der Fahrzeug-Sprachsteuerung in etwa wie ein Gespräch zwischen zwei hochgradig schwerhörigen Personen vorstellen kann, von denen beide kein Wort verstehen.

Hey, kommst Du mit zum Fußball?
Nein, ich will zum Fußball. 
Oh coole Idee, finde ich besser als Fußball.
Na gut, ich denk nochmal drüber nach.
Du mich auch.

Bei den wenigen Versuchen, eine Navigation per Sprachsteuerung zu starten, war ich meist am Ziel, bevor das Fahrzeug und ich uns letztendlich verstanden hatten Die ganze Situation war mindestens so komisch wie ein absurder Monty Python-Sketch. Meine Kinder fanden das spätestens dann enorm lustig, wenn ich anfing, die Sprachsteuerung verzweifelt mit Schimpfwörtern zu traktieren. Das verstand sie zwar auch nicht, aber die Antworten führten meist zu großer Erheiterung auf der Rücksitzbank. Wenn gar nichts mehr geht, ist Lachen immer eine gute Lösung. Leider hat das Auto nie mitgelacht.

Mit dem Cochlea-Implantat verstehe ich die meisten Navigationsansagen hervorragend. Auch Warnungen vor Staus, Unfällen oder Geisterfahrern kommen bei mir an. Da ich deutlicher spreche, verstehe mich auch die Sprachsteuerung besser. Insbesondere mit dem Google Assistant verstehe ich mich ausgezeichnet und es ist, als wären wir schon ewig Freunde. Das Verstehen von WhatsApp-Textnachrichten, die mein Smartphone mir via Android Auto vorliest, funktioniert ausgezeichnet. Auch meine Antworten werden zuverlässig verstanden und an die entsprechenden Kontakte gesendet. Das Telefonieren beim Autofahren habe ich noch nicht ausprobiert, das wird dann der nächste Level. Und anstatt über die Kommunikation mit der Sprachsteuerung zu lachen, können meine Kinder und ich uns in Zukunft beim Autofahren Witze erzählen. Auch nicht schlecht!

Tag 49 – Black Box

Heute besuche ich nach Feierabend einen Freund und Arbeitskollegen, der ebenfalls auf beiden Ohren hochgradig schwerhörig ist und vor drei Wochen auch sein erstes Hörimplantat bekommen hat. Sein implantiertes Ohr war schon kurz nach Geburt taub und wurde erst später mit Hörgeräten versorgt. Wie bei vielen anderen Cochlea-Implantat Trägern, die ich kenne, funktioniert das Hörimplantat bei ihm nicht so schnell so gut wie bei mir. Zwar hört er deutlich mehr Geräusche als mit Hörgerät, aber die Verarbeitung und Kodierung der Geräusche im Gehirn läuft bei ihm noch nicht so gut und ohne das Hörgerät auf der anderen Seite könnte ich mit ihm nicht kommunizieren.

Auch wenn die meisten Cochlea-Implantat-Träger, die ich in der letzten Zeit kennengelernt habe, zumindest nach einiger Zeit zufrieden mit ihrem Hörimplantat sind, funktioniert es nicht bei allen gleich gut und gleich schnell. Es gibt viele Faktoren, die für den Erfolg entscheidend sind:

  • die Art der Hörschädigung: Hörschädigung heißt nicht oder nur in den seltensten Fällen, dass man leiser hört. Manche Menschen, wie ich zum Beispiel, hören hohe Töne deutlich schlechter als tiefe Töne. Bei anderen ist es genau anders herum. Wiederum andere hören im Frequenzbereich, in dem Sprach liegt, besonders schlecht. Das sind Töne, die im Frequenzbereich zwischen 200 und 4000 Hertz liegen. Manche hören schlecht wegen eines Tinnitus, bei dem man im Ohr Geräusche hört, die nicht von außen erzeugt werden. Es gibt sogar Fälle von Hörschädigung, bei denen Menschen manche Frequenzen deutlich lauter hören als normal. Jede Hörschädigung ist individuell anders und deshalb reagiert jeder Mensch anders auf ein Hörimplantat.Dazu kommt: Hörschädigung kann ihre Ursachen im Innen- oder Mittelohr haben. Bei einem defekten Mittelohr können Mittelohrimplantate helfen. Bei Innenohrschwerhörigkeit kann ein Cochlea-Impantat helfen, wenn der Hörnerv intakt ist. In diesem Fall sind meist die Haarzellen defekt sein, die den Schall, der in die Hörschnecke gelangt, auf den Hörnerv weiterleiten. Wenn die Hörnerven nicht funktionieren, kann ein Cochlea-Implantat nicht helfen. Mittlerweile gibt es aber sogenannte Hirnstammimplantate, bei denen der Schall über ein ähnliches Equipment wie beim Cochlea-Implantat direkt in den Hirnstamm geleitet wird.
  • die Hörbiographie: Es gibt Menschen, die hören wegen eines Unfalles oder eines Hörsturzes von einen Tag auf den anderen nicht mehr. Andere werden langsam schwerhörig. Manche sind von Geburt an schwerhörig oder gehörlos, andere werden erst nach dem Spracherwerb hörgeschädigt. Manche werden von Beginn der Hörbehinderung an optimal mit Hörgeräten versorgt, andere hören längere Zeit nichts oder tragen nie Hörgeräte. Generell kann man sagen, dass ein Hörimplantat dann gute Hörergebnisse ermöglicht, wenn ein normaler Spracherwerb möglich war. Wenn ein Kind von Geburt an gehörlos ist und nie Sprache hört, wird das Gehirn nicht auf das Kodieren von Sprache programmiert und kann später in den meisten Fällen nichts mit gesprochener Sprache anfangen, auch wenn die Töne generell wahrgenommen werden können. Deshalb wird empfohlen, gehörlose Kinder möglichst früh zu implantieren, damit dieser Spracherwerb möglich ist.
  • die persönliche Konstitution: Es gibt Menschen, die lernen generell schneller oder langsamer als andere. Elektronisches Hören ist eine Herausforderung für das Gehirn. Je flexibler und leistungsfähiger dieses Organ ist, umso besser sind die Voraussetzungen für ein gutes Hören mit Hörimplantat.
  • die psychische Konstitution: Ich denke, dass jemand, der positiv eingestellt ist, besser mit einem Hörimplantat zurecht kommen wird als jemand, der eher negativ dazu steht. Bei der ersten Anpassung war ich froh, dass ich Stimmen gehört habe, auch wenn sie sich anfangs furchtbar angehört haben. Wenn der am Anfang furchtbare Sound die Freunde über das Hören der Stimmen überwiegt ist es sicherlich schwieriger, sich mit dem CI anzufreunden und die nächsten Schritte zu machen.
  • die Operation: Innenohrimplantate werden mittlerweile zwar immer häufiger und an vielen Kliniken eingesetzt, aber sie sind dennoch ein recht großer Eingriff in den menschlichen Körper. Die Liste der möglichen Nebenwirkungen ist lang. Der Erfolg der Operation hängt unter anderem davon ab, wie tief die Elektrode ins Ohr geschoben werden kann und wie nah sie am Hörnerv platziert ist.
  • die Nachsorge: Das Einstellen eines Hörimplantates bzw. des dazugehörigen Soundprozessors ist nicht einfach. Je besser die audiologische Nachsorge ist und je besser der Ingenieur den Soundprozessor einstellen und das Feedback des Patienten verarbeiten kann, desto größer wird der Hörerfolg. Und natürlich muss auch der Patient selbst hart arbeiten und das Hören trainieren.

Es ist also sehr schwierig, den Erfolg vorauszusagen. Jedes Hörimplantat funktioniert bei jedem Menschen anders, weil jeder Mensch mit seiner Hörschädigung individuell anders ist. Was bei einem super klappt, kann beim anderen überhaupt nicht funktionieren. Im Normalfall setzt man eine Dauer von circa 6 Monaten voraus, bis ein Patient mit einem Hörimplantat gut Sprache verstehen kann. Ich lerne allerdings immer mehr Personen kennen, die das deutlich schneller schaffen. Dass es bei mir so schnell funktioniert hat, ist vielleicht ein kleines Wunder – mir sind nur wenige Fälle bekannt, die einen derart schnellen Erfolg erzielen konnten. Ich kenne allerdings auch kaum spätertaubte Menschen mit Hörimplantat, die damit nicht zufrieden sind – also Menschen, die einen normalen Spracherwerb hatten und immer mit Hörgeräten versorgt waren. Fast alle hören damit nach ein paar Monaten deutlich besser als mit dem Hörgerät.

Von Geburt an gehörlose Menschen, die später mit einem Cochlea-Implantat versorgt worden sind, haben damit oft Probleme und können kaum Sprache verstehen. Hörimplantate wurden zuerst bei dieser Gruppe eingesetzt; die frühen Implantate hatten noch einen richtigen Stecker im Kopf, der sich oft entzündete. Dies ist ein Grund, warum von Geburt an gehörlose Menschen oft negativ gegenüber Cochlea-Implantaten eingestellt sind. Dazu kommt, dass Gehörlose nicht nur in Deutschland lange für die Anerkennung der Gebärdensprache kämpfen mussten. Es wurde lange Zeit versucht, Gehörlose lautsprachlich zu erziehen und die Gebärdensprache zu unterdrücken. Dementsprechend existiert in dieser Gruppe eine große Angst vor allen Bemühungen, Gehörlose wieder „hörend“ zu machen. Ich kann das nachvollziehen und denke nicht, dass ein Hörimplantat für jeden die optimale Lösung ist. Letztendlich muss es jeder für sich selbst entscheiden. Ein Hörimplantat ist keine Lösung für jeden Hörgeschädigten. Für viele Menschen und auch für mich ist es allerdings eine Offenbarung.

Leider sind die Diskussionsfronten bei diesem Thema teilweise sehr verhärtet. Einerseits wird ein Hörimplantat als Allheilmittel angepriesen, andererseits verteufelt. Das ist schade. Es wäre einfacher, wenn man die Entscheidungen anderer Menschen akzeptieren und nicht versuchen würde, sie von seinem persönlichen Weg zu überzeugen.

Schwierig ist es, wenn es um die Versorgung von neugeborenen Menschen mit Hörschädigung geht, deren gehörlose Eltern eine Implantation ablehnen. Sofern die Chancen gut sind, dass ein solches Kind mit einem Cochlea-Implantat Sprache erlernen und verstehen kann, ist eine Implantation aus meiner Sicht absolut notwendig und sollte in jedem Fall durchgeführt werden. Auch wenn ich die Gehörlosen-Kultur während meiner Schulzeit kennen- und schätzen gelernt habe und Gebärdensprache weitaus leistungsfähiger ist, als viele Menschen denken, sollte man keinem Kind die Chance verbauen, mit Lautsprache aufzuwachsen.

Tag 48 – Klopf, Klopf

Ich mag Wartenummern, die man ziehen muss, bevor man irgendwo reingehen darf; das ist eine tolle Erfindung. Zwar warte ich generell nicht gerne, aber Wartenummern haben für hörgeschädigte Menschen einen großen Vorteil: Sie sprechen nicht, man muss sie nicht hören, sie sind unmissverständlich und sie werden in den meisten Fällen auf einem Bildschirm angezeigt. Wenn die eigene Wartenummer aufgerufen wird, geht man einfach schnurstracks zum entsprechenden Schalter oder in das betreffende Büro. Es gibt auch Wartenummern, die aufgerufen werden, das mag ich wiederum gar nicht, weil Nummern relativ gleich klingen können. In so einem Fall stehe ich dann einfach auf, wenn sich nach 10 Sekunden niemand bewegt und gehe in das entsprechende Büro. In den seltensten Fällen wird überprüft, ob die Wartenummer, die ich habe, tatsächlich der aufgerufenen entspricht. Die meisten Sachbearbeiter und Sachbearbeiterinnen sind zufrieden, wenn man den Wartenummerzettel einfach in den Wartenummerzettelbehälter wirft. Wenn dann doch noch jemand mit Verspätung an den Schalter tritt, der die richtige Wartenummer hat, kann man als hörgeschädigte Person einfach sagen, dass man sich verhört hat. In 90 Prozent aller Fälle wird das eigene Anliegen dann trotzdem fertig bearbeitet. Das ist vielleicht nicht ganz fair, aber irgendwie muss man schließlich überleben. Bis Schalterschluss unabgefertigt im Warteraum zu sitzen ist ja auch keine Alternative.

Der große Vorteil von Wartenummern ist, dass man in ein Büro eintreten kann, ohne auf Rückmeldung durch die geschlossene Tür zu warten. Natürlich klopfe ich auch mit Wartenummer der Freundlichkeit halber kurz an, bevor ich eintrete, aber: Ich muss nicht auf ein „Herein“ warten, das ich mit Hörgeräten nie wahrnehmen konnte. Situationen, in denen man Büros oder Räume betreten muss und nicht weiß, ob man herein kann oder ob der Bürobewohner gerade in einer wichtigen Besprechung steckt, Yoga macht, sich mit einem anderen Bürobewohner vergnügt oder die Unterwäsche wechselt, sind für hörgeschädigte Personen reiner Horror. Vor allem dann, wenn es sich um Chefs oder andere gefährliche Personen wie zum Beispiel pubertierende Jugendliche handelt. Bei letzteren erzeugt man schlimmstenfalls eine peinliche Situation mit einem darauffolgenden anstrengenden Wochenende. Der erste Fall kann eine ganze Karriere ruinieren. Auch Sachbearbeiter in Behörden können sehr unfreundlich werden, wenn man einfach hereinplatzt oder eintritt, obwohl ein „einen Moment noch“ statt eines „herein“ gerufen wird. Das eigene Anliegen kann man dann von vornherein vergessen.

Bei besonders gefährlichen Konstellationen, wie zum Beispiel bei Bewerbungsgesprächen oder bei dem Kennenlerntermin mit einer hochrangigen Führungsperson bei meinem Arbeitgeber zu Anfang dieses Jahres, die mehr als 1.800 Mitarbeiter managed, suche ich mir deshalb Hilfe und bitte andere anwesende oder vorbeilaufende Personen, für mich zu klopfen und das Feedback zu übersetzen. Wenn niemand anwesend ist, klopfe ich in nebenliegenden Büros an, in denen Mitarbeiter mit niedrigerem Status sitzen. Zwar habe ich hier dasselbe Kommunikationsproblem, aber immerhin verärgere ich damit nicht die Person, mit der ich ein wichtiges Gespräch habe. Kollateralschäden lassen sich nicht immer vermeiden. Auch hilfreich ist es, vorab per E-Mail darüber zu informieren, dass man durch geschlossene Türen nicht kommunizieren kann und zu verabreden, dass man klopfen und dann draußen warten wird. Das klappt aber auch nicht immer.

Kritisch sind für mich auch Parties in Wohnungen, in denen die Toiletten keine Schlüssel haben – dies findet man oft bei Eltern von kleinen Kindern. Welches Elternteil einmal die Situation erlebt hat, dass ein Vorschulkind Aa gemacht hat, den Hintern nicht sauber bekommt und die Tür von innen nicht wieder aufschließen kann, weiß warum. Auf solchen Parties höre ich weder, wenn jemand von außen klopft, während ich mein Geschäft verrichte, noch wenn jemand innen sein Geschäft verrichtet und panisch ruft „Nein„, wenn ich klopfe. Beide Situationen können peinlich enden – vor allem dann, wenn Vorgesetzte auf dieser Party anwesend sind. Auch hierfür gibt es Überlebensstrategien: Wenn ich in so einer Situation in der Toilette bin, kann ich andere zum Beispiel bitten, die Tür zu bewachen. Das ist allerdings auch nicht ganz unpeinlich. Oder ich singe in der Toilette, damit man von außen hört, dass sie besetzt ist. Auch das empfiehlt sich aber erst nach dem fünften Bier. In engen Toiletten kann man die Tür mit dem Bein blockieren – das ist aber ergonomisch recht ungünstig.

Ein Freund von mir hat übrigens eine schlüsselfreie Toilette, die er mit einem sehr intelligenten Warnsystem versehen hat – jedenfalls für nicht hörgeschädigte Menschen: Vor der Tür und neben dem Toilettensitz hängt eine Tröte. Wenn jemand auf die Toilette möchte, muss er zweimal tröten – wenn jemand drin ist, trötet er zurück. Ich finde das sehr amüsant, aber bin wirklich froh, dass ich dort niemals während einer Party auf’s Klo musste.

Mit meinem Cochlea-Implantat wird auch dieses Problem weitgehend der Vergangenheit angehören. Zumindest heute hat es funktioniert, als ich einen Meeting-Raum betreten wollte und nicht wußte, ob dort gerade noch ein wichtiges Meeting abgehalten wird. Sicher werde ich auch mit den Hörimplantaten in Zukunft nicht immer alles richtig verstehen. Aber viele dieser oben geschilderten Probleme werden mir seltener begegnen. Und das ist gut so!

Tag 47 – Gegensprechanlage

Heute fahre ich das erste Mal seit der Implantation wieder nach Walldorf, in die Firmenzentrale meines Arbeitgebers. Ich mache diese Tour etwa alle 2-3 Wochen; pro Strecke sind 560 Kilometer zu fahren. Montags um 6 geht es los und gegen Mittag bin ich im Office. Meistens fahre ich Donnerstagnachmittag dann wieder nach Hause. Mit der Bahn fahre ich nicht mehr, weil das mehrfache Umsteigen samt Verspätungen schon häufig dazu geführt hat, dass ich über 9 Stunden unterwegs war. Mit dem Auto geht es schneller und es ist auch entspannter – ich kann in Ruhe Musik hören, mache eine schöne Frühstückspause und komme dank der umfangreichen Assistenzsysteme in meinem Firmenwagen relativ entspannt an.

Und: Ich kann mein elektronisches Hören beim Fahren trainieren. Die Motorgeräusche werden vom Soundprozessor gut unterdrückt und die Soundanlage meines Autos hat einen hervorragenden Klang. Also schalte ich das Radio ein – das beste Hörtraining, das man sich vorstellen kann. Verkehrsmeldungen verstehe ich schon sehr gut. Der Aufbau dieser Meldungen ist relativ einfach und immer ähnlich und die häufigen Wiederholungen helfen, auch Dinge zu verstehen, die beim ersten Mal nicht sofort angekommen sind. Ähnlich ist es bei Nachrichten: Auch hier gibt es alle 30 Minuten eine Wiederholung mit leichten Änderungen. In beiden Fällen wird außerdem sehr deutlich gesprochen. Zwischendurch kann man sich mit Musik entspannen, was sehr wichtig ist – denn 5 Stunden Hörtraining am Morgen wäre etwas zu viel.

Die letzte halbe Stunde vor meiner Ankunft in Walldorf schalte ich das Radio allerdings aus. Denn mein Ohr braucht nach dem insbesondere lauten Musikhören immer etwas Erholung, um für sprachliche Kommunikation fit zu sein. Ich verstehe Sprache direkt nach längerem Musik hören nicht mehr so gut; alles ist etwas leiser. Aber meistens reicht eine halbe Stunde aus, um den Hörnerv wieder zu regenerieren.

In Walldorf angekommen gibt es erst einmal viel Small-Talk zu absolvieren. Ich habe meine Arbeitskollegen seit der Operation ja nicht mehr gesehen undAm frühen Nachmittag steht das erste reale Meeting auf dem Arbeitsplan: Es geht um die Vorstellung einer neuen Arbeitsaufgabe für mich; mit mir sind wir zu viert. Ich verstehe fast alles einwandfrei und kann dann direkt loslegen.

Auch der Check-In im Hotel am späten Abend läuft reibungslos, obwohl ich etwas mit dem Dialekt an der Rezeption kämpfen muss. Ich übernachte gerne in kleinen, Inhabergeführten Hotels. Zwar ist die Ausstattung dort oft nicht so opulent wie in bekannten Hotelketten und das Frühstück bietet keine Auswahl an Frühstücksgerichten aus 5 Kontinenten, aber der Service ist meist besser und es ist alles etwas persönlicher. Schwierig wird es immer, wenn die Rezeption nicht durchgehend belegt ist und ich mit einer Gegensprechanlage kämpfen muss. Denn Gegensprechanlagen sind für hörgeschädigte Personen eine Katastrophe. Die Tonqualität ist oftmals bescheiden und natürlich kann man nicht von den Lippen ablesen, was bei mir bislang immer dazu führte, dass ich rein gar nichts verstanden habe. Stattdessen war es für mich immer ein Erfolg, wenn ich überhaupt gemerkt habe, dass die Gegensprechanlage überhaupt reagiert, weil der Verkehrslärm im Hörgerät dominiert.

Man entwickelt im Lauf der Zeit allerdings Codes, mit denen man Gegensprechanlagen besiegen kann, wenn man nicht weiß, ob der Gesprächspartner Deutsch, Italienisch oder Hmong redet. Privat genutzte Gegensprechanlagen lassen sich meistens durch ein selbstbewußtes „Ich bin’s, mach mal auf“ überlisten. Das klappt häufig. Wenn man erwartet wird, macht der eigenen Name durchaus Sinn: „Hier ist Chris, mal mal bitte auf„. Bei Hotels, deren Rezeption nicht durchgehend besetzt ist, versuche ich meistens mit „Hier ist [Name], ich habe bei Euch ein Zimmer gebucht, kann bitte jemand kommen? Ich kann die Antwort leider nicht verstehen„. Falls nach 15 Minuten niemand auftaucht, funke ich dann die ErstBesteHälfte per Textnachricht an und bitte sie, das Hotel anzurufen. Eher schlechte Erfahrungen habe ich übrigens gemacht mit „Die Pizza ist da, bitte aufmachen„, „Ich mache eine Umfrage zum Thema Geschlechtskrankheiten“ und „Ich möchte gerne mit Dir über Gott reden„.

Weil ich oftmals nicht gehört habe, ob und wann die Gegensprechanlage loslegt, habe ich mich hingekniet, das Ohr an die Gegensprechanlage gehalten und den entsprechenden Code dann wie ein Mantra alle 10 Sekunden wiederholt. Weil ich auch das Summen nicht gehört habe, das signalisiert, wenn die Türöffnung betätigt wird, habe ich dabei dann noch fest gegen die Tür gedrückt. Wenn man sich das ganze bildlich vorstellt, gehört wohl eine gehörige Portion Glück dazu, in knapp 40 Jahren Kampf mit Gegensprechanlagen als Hörgeschädigter noch nie verhaftet oder in die Psychiatrie verfrachtet worden zu sein. Ich habe allerdings auch vor dem Betätigen des Gegensprechanlagenknopfes immer darauf geachtet, dass keine Polizeistreife in der Nähe ist.

Dank Cochlea-Implantat wird das auch in den nächsten 40 Jahren nicht passieren – denn ich höre jetzt, wenn die Anlage loslegt und ich werde auch verstehen, was gesagt wird – vielleicht nicht alles und beim ersten Mal, aber es wird klappen. Ich freue mich ab jetzt sehr auf Einladungen zum Kaffee, wenn Ihr in einem Mehrparteienhaus wohnt und eine Gegensprechanlage habt.

Tag 46 – Race

Ein schöner Small-Talk-Sonntag. Erst ein Fußballspiel von Junior II mit viel Klönschnack am Spielfeldrand. Dann geht es zum ersten Mal seit meiner OP ins Freibad, das heute zum letzten Mal in diesem Jahr geöffnet hat. Leider habe ich in diesem Sommer zu wenig Sport gemacht und bin etwas außer Übung, aber ziehen dennoch 40 Bahnen durch. Der Soundprozessor bleibt dabei draußen, obwohl ich ein sogenanntes Aqua-Kit habe: Eine wasserdichte Plastikhülle für Soundprozessor und Spule, mit deren Hilfe man auch im Wasser hören kann. Weil ich gelesen habe, dass es damit manchmal etwas Probleme gibt und die Wasserdichtigkeit nicht zuverlässig ist, gehe ich lieber kein Risiko ein. Beim Schwimmen würden mich die Teile hinter dem Ohr und am Kopf sowieso stören und ab und zu tut es gut, auch mal gar nichts zu hören.

Wie immer treffe ich nach dem Schwimm-Pflichtprogramm einige Bekannte und Nachbarn in unserem schönen Dorffreibad. Bislang blieb es meistens bei einem Zuwinken und Hallo rufen – Small Talk habe ich nur gemacht, wenn ich direkt angesprochen worden bin. Das ist jetzt anders: Seit ich das Cochlea-Implantat habe traue ich mich, einfach mal ein bißchen zu quatschen und gehe viel aktiver auf meine Mitmenschen zu. Und das macht richtig Spaß! Hoffentlich bekomme ich jetzt nicht den Ruf einer Quasselstrippe ab.

Nach dem Schwimmen fahre ich mit Junior II zur Deutschen Meisterschaft im Motorrad-Sandbahnrennen, das in diesem Jahr auf dem Hurricane-Festivalgelände stattfindet. Dieses Festgelände ist eigentlich in erster Linie eine Sandbahn und gehört dem Motorsportclub Eichenring, der das Gelände für das Hurricane zur Verfügung stellt. Es ist immer sehr aufregend, die Motorräder mit knapp 130 km/h über die ovale Sandbahn jagen zu sehen – und es ist wirklich laut, merke ich heute! Die Motoren knattern wirklich wie die Hölle und ich regele den Soundprozessor etwas herunter.

Das schönste Erlebnis ist allerdings, dass ich die Lautsprecherdurchsagen teilweise gut verstehe! Es gibt Durchsagen, welche Fahrer am Start sind, welches Rennen es ist (Qualifikation, Halbfinale, Finale), wie schnell der Gewinner im Schnitt unterwegs war und auch die Rennen selbst werden live kommentiert. Zwar habe ich früher immer gehört, dass da etwas über die Lautsprecher kommt, aber keine Wort verstanden. Heute verstehe ich auf Anhieb etwas die Hälfte – und erkenne auch die Songs, die in den Rennpausen über die Anlage geschickt werden. Dass ich beim Imbissstand wenig später auch alles verstehe (Currywurst hamwa nicht, nur Bratwurst mit Currysoße) ist mittlerweile schon fast ebenso selbstverständlich.

Die Stimme von Junior I klingt am Telefon übrigens ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe. Vielleicht liegt es auch am Stimmbruch, der beim Telefonat gerade auf „Tief“ gestellt war. Junior II muss hier ein bißchen helfen, aber es kann nicht alles direkt am Anfang klappen.

Tag 45 – Platz

Über das Wochenende besucht mich ein alter Freund aus der Schweiz. Wir sehen uns zum ersten Mal seit meiner Implantation und unsere Unterhaltungen machen noch mehr Spaß als sonst. Ich schaffe es mittlerweile auch ganz gut, mich im Kerzenlicht zu unterhalten – das ging mit Hörgeräten gar nicht. Wenn man das Lippenablesen zur Hilfe braucht, ist man auf ein gut beleuchtetes Mundbild angewiesen. Romantische Unterhaltungen bei Kerzenlicht oder Abends im Bett sind fast unmöglich.

Hörschädigung ist oftmals ein echter Gemütlichkeitskiller: Den Gesprächspartner mit der Taschenlampe anzuleuchten schafft eine Verhörsituation. Und Abends unter Flutlicht zu sitzen ist im Fußballstadion zwar toll, aber auf der Terrasse oder im Garten eher lästig. Wir verwenden zu Hause gerne Campingleuchten zur Lippenableseunterstützung und stellen viele Kerzen auf. Wenn ich dennoch gar nichts verstehe bitte ich die sprechende Person, sich ein angeschaltetes Smartphone vor das Gesicht halten. Der Lichtschein reicht im Normalfall aus, um das Mundbild zu erkennen. Auch das ist allerdings nicht besonders romantisch. Ganz besonders schwierig ist es dann, wenn die sprechende Person das Licht im Rücken hat. In diesem Fall sieht man gar keine Gesichtsdetails mehr und das Verständnis tendiert gegen Null.

Menschen mit Hörschädigung müssen deshalb immer strategisch günstig sitzen, wenn sie möglichst viel verstehen wollen. Möglichst in der Mitte, um alle sprechenden Personen gut zu sehen. Möglichst mit dem Licht im Rücken, damit keine Gesichter von hinten beleuchtet werden. Manchmal rechts oder links – je nachdem, welche Ohr das bessere ist. Man braucht ein bißchen Mut und Selbstüberwindung, um die „besten“ Plätze zu beanspruchen – vor allem bei Gesprächen mit Vorgesetzten, die ich gnadenlos umsetze, wenn die Sitzordnung für mich suboptimal ist. Meine Freunde und Nachbarn wissen mittlerweile, warum ich mich bei jeder Zusammenkunft als erster auf einen bestimmten Platz setze und dabei auf niemanden anderen Rücksicht nehme – außer natürlich auf körperlich eingeschränkte Personen, die als Rollstuhl- oder Rollatorfahrer bestimmte Plätze benötigen. Und warum Plätze getauscht und Stühle gerückt werden müssen, wenn ich später zu einer Runde stoße. Das ist unangenehm, weil man für recht viel Aufruhr sorgt. Aber diese optimalen Sitzpositionen sind enorm wichtig für das Verstehen und Bestandteil eines inklusiven Zusammenlebens. Das wird sich auch mit Cochlea-Implantat nicht ändern, aber es wird alles etwas einfacher werden, weil ich auch im Dunkeln immer besser hören kann.

Ebenfalls nicht einfach für hörgeschädigte Menschen ist das Pflegen von Freundschaften, die weiter entfernt wohnen. Die meisten meiner Freunde und auch Familienangehörigen wohnen weit weg – teilweise sogar im Ausland. Das macht ein persönliches Treffen vor allem dann schwierig, wenn Familien dazugehören. Denn eine weite Reise mit Kindern muss gut geplant werden und ist auch nicht ganz billig.

Wenn man nicht oder nur eingeschränkt telefonieren kann, fehlt ein wichtiger Draht zur Pflege solcher Freundschaften. Ich kompensiere dies soweit wie möglich durch das Schreiben von E-Mails und Textnachrichten oder Chatten. Ein Telefonat ist natürlich viel einfacher, als rein textbasierte Kommunikation. Man kann in derselben Zeit mehr besprechen und direkt auf den Gegenüber eingehen. Man hört die Stimme und bekommt mehr nonverbale Informationen als beim Schreiben. Es ist einfacher, eine Nummer zu wählen als sich hinzusetzen, und seine Gedanken in eine E-Mail zu packen. Zum Glück habe ich Freunde, die nicht böse sind, wenn man sich mal eine Weile nicht meldet, sondern die sich freuen, wenn man sich meldet oder treffen kann. Manche sehe ich jahrelang nicht und bei einem Treffen fühlt es sich dann an, als wäre gerade mal eine Woche vergangen. Ich freue mich dennoch sehr darauf, in Zukunft über Videotelefonie oder bald auch reines Telefonieren leichter Kontakt halten zu können. Einfach mal 10 Minuten quatschen können – das ist etwas, was mir bislang sehr gefehlt hat.

Tag 44 – Nummer 2

Heute liegt ein Brief der Medizinischen Hochschule Hannover im Briefkasten, in dem mir der Termin für die Implantation des linkes Ohres mitgeteilt wird: Ich soll am 1. Oktober im Krankenhaus vorstellig werden. Die Operation ist dann vermutlich am 2. Oktober und bis zum Ende der Woche bin ich wieder zu Hause. Eigentlich wartet man nach einer einseitigen Implantation mindestens 6 Monate auf Nummer 2. Aber weil meine Hörerfolge schon nach kurzer Zeit so gut sind und die Wunde toll verheilt ist gibt es keinen Grund, zu warten. Das linke Ohr liegt seit der ersten CI-Operation ja brach, weil ich mit dem Hörgerät nicht mehr klarkomme. Das CI auf der rechten Seite hat eine dermaßen bessere Hörqualität, dass das Hörgerät links einfach nur noch stört. Und je länger ich warte, desto schwieriger wird es für das linke Ohr, „reaktiviert“ zu werden. Außerdem sind die Voruntersuchungsergebnisse, die auf beiden Ohren gemacht wurden, noch frisch und ich kann quasi direkt in den OP geschoben werden. Natürlich wird es auch links ein Implantat von Med-El werden und auch der linke Soundprozessor wird sehr wahrscheinlich weiß.

Wie auch schon beim rechten Ohr muss ich meine Erwartungen erst einmal herunterschrauben. Das ist schwierig, weil das rechte Implantat hervorragend funktioniert und ich natürlich damit rechne, dass es links genauso läuft. Dafür gibt es aber keine Garantie; es kann auch alles ganz anders kommen. Bei der Operation sind viele Nebenwirkungen möglich – von Geschmacksverlust über Schwindel und Gleichgewichtsproblemen bis hin zur halbseitigen Gesichtslähmung. Diese Fälle kommen allerdings nur sehr, sehr selten vor. Der Hörerfolg hängt davon ab, wie gut die Elektrode im Innenohr platziert ist, wie tief sie hereingeschoben werden kann und wie nah sie sich am Hörnerv befindet. Ich denke schon, dass auch mein linkes Ohr sehr schnell gut hören wird, wenn die Operation so gut gelingt wie bei rechten Ohr. Vielleicht wird es auch nicht so gut wie rechts oder vielleicht noch besser – es ist immer Risiko dabei und es wird schwer, die Erwartungen niedrig zu halten und nicht enttäuscht zu sein, wenn Nummer 2 nicht so gut funktioniert wie Nummer 1.

Auch das linke Ohr muss sich erst einmal an das neue Hören gewöhnen. Wahrscheinlich wird dies eher schneller klappen als beim rechten Ohr, weil sich mein Gehirn bereits gut auf das elektronische Hören mit Implantat eingestellt hat und die Hörnerven über Kreuz laufen. Aber auch das linke Ohr braucht Eingewöhnung und eine einwöchige Feinanpassung und muss trainiert werden. Das bedeutet, dass ich das rechte elektronische Ohr zumindest teilweise ausschalten muss, um das linke voll zu fordern – sonst wird es schwieriger werden, den Erfolg des rechten Ohres zu wiederholen. Auf das Hörgerät links zu verzichten fiel mir nach der ersten Implantation sehr leicht, weil ich mit dem Implantat viel besser hörte. Ein gut funktionierendes Ohr auszuschalten fällt einem schwerer. Aber das bekomme ich schon hin.

Natürlich habe ich auch vor der zweiten Operation etwas Angst. Die ganze Geschichte nach 8 Wochen noch einmal – Krankenhaus, Narkose, Wunde, Fäden ziehen, schlecht schlafen… und der Wow-Effekt der ersten Implantation wird fehlen. Das Hörerlebnis war ab der Frühanpassung so überraschend gut, dass ich die ganze Zeit einer Glücksblase gelebt habe und alle unangenehmen Nebeneffekte mehr oder weniger irrelevant waren. Diese Glücksblase wird bei der zweiten Impantierung kleiner sein. Aber dennoch: Die Vorstellung, auf beiden Ohren so gut zu hören wie auf dem rechten jetzt, ist die zweite Operation wert. Mehr als gar nichts werde ich auf jeden Fall hören. Es wird schon schiefgehen!

Tag 43 – Unter Strom

Heute liegt ein Brief meiner Krankenkasse im Briefkasten, in dem die Kostenübernahme für die Energieversorgung meines Soundprozessors mit wiederaufladbaren Akkus abgelehnt wird. Damit hatte ich nicht gerechnet. Bei der Auswahl des Implantates vor der Operation wurde ich gefragt, ob ich eine Energieversorgung mit Batterien oder Akkus möchte, weil die Krankenkassen nur die Kosten für eine Variante erstatten. Entweder werden die Batterien bezahlt, die man automatisch und regelmäßig von Medel per Post geschickt bekommt, oder aber ein Satz Akkus samt Ladestation, wobei die Akkus alle 16 Monate ausgetauscht werden, da die Akkuleistung im Lauf der Zeit nachlässt. Medel liefert seine Geräte standardseitig immer mit Batterien aus; die Akkus müssen dann direkt nach Erhalt des Gerätes bestellt werden.

Dies hatte ich auch direkt getan, weil ich Akkus umweltfreundlicher finde. Zwar halten sie nicht so lang wie Batterien, aber der Wechsel geht schnell und man kann die Ersatzakkus über Nacht an der Ladestation aufladen. Batterien halten laut Herstellerangabe circa 3 Tage. Ich scheine deutlich mehr Strom zu verbrauchen und mein Soundprozessor braucht meistens schon nach anderthalb bis zwei Tagen Nachschub. Die Akkus, von denen es zwei Varianten unterschiedlicher Größe gibt, halten maximal 10 Stunden. Ich muss also damit rechnen, dass ich einmal pro Tag den Akku wechseln muss.

Der Stromverbrauch hängt zum einen von der Einstellung des Soundprozessors ab. Je höher die Pulsrate ist, je mehr Strom als auf den Hörnerv gespeist wird, desto mehr Energie wird verbraucht. Auch die Tragedauer spielt eine Rolle. Ich schlafe meistens nur 5-6 Stunden und trage den Soundprozessor in der restlichen Zeit ohne Pause. Ein weiterer Faktor für den Stromverbrauch ist, wie viel man hört. Als Familienvater bekomme ich natürlich recht viel Hörinput. Außerdem höre ich sehr viel Musik und spiele pro Tag auch etwa eine halbe Stunde Schlagzeug und Klavier. Speziell das Schlagzeug ist ein Energiefresser, weil es sehr viele und sehr laute Töne produziert. Die Herstellerangaben für die Laufzeit der Akkus sind aus meiner Sicht sehr optimistisch – ähnlich wie bei den Verbrauchsangaben bei PKWs, die ebenfalls unter unrealistischen Bedingungen ermittelt werden. Letztendlich ist es aber kein Problem, alle zwei Tage Batterien zu wechseln. Für mein gutes Hören ist das ein sehr kleiner Preis.

Die Begründung für die Ablehnung der Kostenübernahme für die Akkus kommt sehr überraschend. Medel hatte mir nicht gesagt, dass dies passieren kann. Zur Begründung wird angeführt, dass der Betrieb mit Batterien deutlich kostengünstiger sei. Das wage ich zu bezweifeln – bei einer ersten Hochrechnung komme ich bei meinem durchschnittlichen Stromverbrauch auf ca. 1.900 Euro Batteriekosten in 16 Monaten. Das ist kaum weniger, als die Akkus samt Ladestation in diesem Zeitraum kosten. Um einen genauen Kostenvergleich aufstellen zu können frage ich Medel nach einer Vergleichsrechnung der Kosten für Batterien und Akkus. Außerdem dokumentiere ich ab sofort meinen Batterieverbrauch, um zuverlässige Zahlen für meine Vergleichsrechnung zu haben.

Und dann werde ich wohl Widerspruch bei der Krankenkasse einlegen. Meine Krankenkasse lehnt generell erst einmal alles ab, was ich benötige. Es ist jedesmal ein langer und anstrengender Kampf mit häufig inkompetenten und teils auch unfreundlichen Sachbearbeitern, bis man Kostenzusagen für notwendige Hilfsmittel bekommt. Oder auch für Hörgeräte.

Hörgeräte müssen etwa alle fünf Jahre erneuert werden müssen, weil sie irgendwann verschlissen sind und zu reparaturanfällig werden. Außerdem kommen in einem Zeitraum von 5 Jahren meistens neue Hörgerätegeneration auf den Markt, die das Hören verbessern können. Krankenkassen bezahlen für Hörgeräte lediglich einen Festpreis in Höhe von unter 800 Euro für das erste Ohr; beim zweiten Ohr ist dieser Betrag 20% geringer. Wer braucht schon zwei Ohren…

Für diesen Festpreis bekommt man die billigsten Standardgeräte, mit denen man zwar rudimentär hören kann, die ansonsten aber nicht ausreichen, um ein halbwegs normales Leben zu führen. Weder verfügen diese Geräte zum Beispiel über Konnektivität, so dass man kein Smartphone oder keinen Computer damit verbinden kann. Auch Features wie die Reduktion von Windgeräuschen, verschiedene Hörprogramme für den Einsatz in lauten Umgebungen, Fernbedienungen zur einfacheren Handhabung oder eine automatische Synchronisierung beider Geräte ist in der untersten Preisklasse meistens nicht verfügbar. Batterien werden selbstverständlich auch nicht bezahlt und bei Reparaturen oder neuen Ohrpassstücken, die jedes Jahr erneuert werden müssen, wird ein nicht gerade geringer Selbstbetrag fällig. Schlechtes Hören ist, zumindest bei meiner Krankenkasse, die wohl nicht ohne Grund die Wörter Bar und arm in ihrem Namen trägt, ein teurer Spaß.

Im Endeffekt entstehen damit neben jährlichen Kosten in Höhe von etwa 500 Euro für Batterien, Reparaturen und Ohrpassstücke bei jeder neuen Hörgeräteversorgung zusätzliche Kosten in Höhe von mehr als 4.000 Euro für beide Ohren. Denn ein wirklich gutes Hörgerät der höchsten Lautstärkeklasse kostet bis zu 4.000 Euro. Mit viel Ausdauer, endlosen Widersprüchen und der tatkräftigen Unterstützung meines Hörgeräteakustikers hatte ich es bislang immer geschafft, diese Zuzahlung für neue Geräte zu umgehen und eine volle Kostenübernahme zu erreichen. Denn letztendlich ist diese Festpreisregelung entgegen den Aussagen von Krankenkassen und Hörgeräteakustikern keine gesetzlich bindende Höchstgrenze! Wenn ein teureres Hörgerät mit einem höheren Frequenzbereich –medizinisch erforderlich ist, zahlt die gesetzliche Krankenversicherung auch qualitativ hochwertigere Modelle. Gesetzlich festgelegt ist:

  • Der Patient hat Anspruch auf aufzahlungsfreie Hörhilfen.
  • Der Anspruch umfasst die Anpassung, das Testen der Geräte, die Wartung der Geräte und die Reparatur.
  • Die Hörhilfen müssen geeignet und qualitativ hochwertig sein und medizinisch notwendig sein.
  • Mehrkosten aufgrund eines höherwertigen Gerätes und eines sonst besonderen Gerätes, das nicht medizinisch notwendig ist, müssen Sie selber tragen.

Quelle: https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/gesundheit-pflege/krankenversicherung/hoergeraete-uebernahme-der-kosten-11470  

Bei der Frage, was geeignet, qualitativ hochwertig und medizinisch notwendig ist, sind der Kreativität und Perfidität der Krankenkassensachbearbeiter keine Grenzen gesetzt; ich habe da schon die tollsten Dinge erlebt. Zum Beispiel wurden alternative Geräte empfohlen, die zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr auf dem Markt waren. Der Gipfel aller Reaktionen war, dass die Krankenkasse mir mitteilte, dass höherwertige Geräte keinen Nutzen bringen, weil ich ja so schlecht hören würde, dass es de Fakto egal wäre, ob ich ein Hörgerät im Ohr habe. Ich hatte daraufhin einen Prozess angedroht und der Krankenkasse mitgeteilt, dass ich den Richter gerne höchstpersönlich davon überzeugen werde, dass ich mit Hörgeräten besser verstehen kann als ohne. Letztendlich wurden die Geräte dann voll bezahlt.

Man braucht viel Energie, um diese Kämpfe zu führen. Und Hörgeräteakustiker, die diesen Kampf unterstützen und gegebenenfalls auch monatelang auf die Kostenübernahme warten können. Natürlich ist es deutlich unkomplizierter, ein Hörgerät zum Festpreis zu verkaufen. Außerdem muss man gut recherchieren und schreiben können – manchmal reicht schon eine falsche Formulierung aus, um alle Chancen auf eine volle Kostenübernahme zu verspielen. Wenn man beispielsweise erwähnt, dass man die Hörgeräte aus beruflichen Gründen braucht, hat man verloren: Dann schiebt die Krankenkasse die Kostenverantwortung auf einen Leistungsträger, der für die berufliche Integration zuständig ist – wie zum Beispiel Integrationsamt oder Rentenkasse. Dass diese Leistungsträger medizinisch notwendige Hilfsmittel gar nicht bezahlen, wird dabei einfach ignoriert.

Die Kostenübernahme bei Cochlea-Implantaten ist deutlich einfacher, denn Implantate samt notwendigem Zubehör fallen in eine andere Leistungsklasse als externe Hilfsmittel wie zum Beispiel Hörgeräte oder Rollstühle. Die Operation wird – sofern eine medizinische Notwendigkeit vorliegt, die bei einem sehr schlechten Hörvermögen vorhanden ist – auf beiden Ohren voll bezahlt; ebenso die Soundprozessoren und die Energieversorung mit Batterien oder Akkus. Neue Soundprozessoren werden bezahlt, wenn die alten defekt sind oder nach 5-6 Jahren, wenn ein messbar besseres Sprachverstehen erzielt werden kann. Allerdings sperren sich einige Krankenkassen gegen die Kostenübernahme für ein zweites Cochlea-Implantat – egal wie schlecht das zweite Ohr ist. Ich bin gespannt, ob es hier Probleme geben wird; das zweite Implantat ist ja schon für Anfang Oktober geplant.

 

Tag 42 – Elternabend

Heute ist Elternabend und weil die ErstBesteHälfte verhindert ist, fahre ich hin. Ich bin bislang sehr selten auf Elternabende gefahren, weil ich einfach zu wenig mitbekommen habe. Wie in meiner Schulzeit auf dem Regelgymnasium verstand ich zwar schon einiges, was die Lehrperson erzählte, wenn ich ganz vorne saß. Die Antworten der Eltern verstand ich aber nur, wenn sie in unmittelbarer Nähe meines Platzes saßen und Diskussionen konnte ich meistens gar nicht folgen. Das war heute anders – ich verstand fast alles und konnte das meiste sogar stichpunktartig notieren.

Keine Notizen machen zu können, wenn jemand spricht, ist ein Problem aller hörgeschädigten Menschen, die auf Lippenablesen angewiesen sind. Man braucht Beides, denn reines Lippenablesen vom Mund funktioniert ebensowenig wie reines Zuhören ohne Mundbild. Man kann im Durchschnitt etwa 30-35% der gesprochenen Sprache vom Mund ablesen, wenn der Sprecher oder die Sprecherin deutlich artikulieren und man weiß, worum es geht. Bei mir ist es vielleicht etwas mehr, weil ich langsam schwerhörig geworden bin und das Ablesen damit quasi automatisch gelernt habe. Bei einem spontanen Hörverlust, z.B. aufgrund eines Hörsturzes, ist das deutlich schwieriger.

Der Elternabend selbst war ansonsten erfreulich unspektakulär. Ich hatte mich richtig darauf gefreut, einen satirischen Blogbeitrag über die verschiedenen Elterntypen zu schreiben, die man auf Elternabenden gerne trifft. Das muss aber warten, denn der gestrigen Abend war gut strukturiert, es wurden alle Punkte relativ schnell besprochen und es gab eigentlich nichts, worüber ich den Kopf schütteln musste. Manche Dinge sind gar nicht so schlimm, wie man sie sich vorstellt, wenn man nicht hören kann. Auch das ist ein toller Nebeneffekt meines Cochlea-Implantats.