Tag 48 – Klopf, Klopf

Ich mag Wartenummern, die man ziehen muss, bevor man irgendwo reingehen darf; das ist eine tolle Erfindung. Zwar warte ich generell nicht gerne, aber Wartenummern haben für hörgeschädigte Menschen einen großen Vorteil: Sie sprechen nicht, man muss sie nicht hören, sie sind unmissverständlich und sie werden in den meisten Fällen auf einem Bildschirm angezeigt. Wenn die eigene Wartenummer aufgerufen wird, geht man einfach schnurstracks zum entsprechenden Schalter oder in das betreffende Büro. Es gibt auch Wartenummern, die aufgerufen werden, das mag ich wiederum gar nicht, weil Nummern relativ gleich klingen können. In so einem Fall stehe ich dann einfach auf, wenn sich nach 10 Sekunden niemand bewegt und gehe in das entsprechende Büro. In den seltensten Fällen wird überprüft, ob die Wartenummer, die ich habe, tatsächlich der aufgerufenen entspricht. Die meisten Sachbearbeiter und Sachbearbeiterinnen sind zufrieden, wenn man den Wartenummerzettel einfach in den Wartenummerzettelbehälter wirft. Wenn dann doch noch jemand mit Verspätung an den Schalter tritt, der die richtige Wartenummer hat, kann man als hörgeschädigte Person einfach sagen, dass man sich verhört hat. In 90 Prozent aller Fälle wird das eigene Anliegen dann trotzdem fertig bearbeitet. Das ist vielleicht nicht ganz fair, aber irgendwie muss man schließlich überleben. Bis Schalterschluss unabgefertigt im Warteraum zu sitzen ist ja auch keine Alternative.

Der große Vorteil von Wartenummern ist, dass man in ein Büro eintreten kann, ohne auf Rückmeldung durch die geschlossene Tür zu warten. Natürlich klopfe ich auch mit Wartenummer der Freundlichkeit halber kurz an, bevor ich eintrete, aber: Ich muss nicht auf ein „Herein“ warten, das ich mit Hörgeräten nie wahrnehmen konnte. Situationen, in denen man Büros oder Räume betreten muss und nicht weiß, ob man herein kann oder ob der Bürobewohner gerade in einer wichtigen Besprechung steckt, Yoga macht, sich mit einem anderen Bürobewohner vergnügt oder die Unterwäsche wechselt, sind für hörgeschädigte Personen reiner Horror. Vor allem dann, wenn es sich um Chefs oder andere gefährliche Personen wie zum Beispiel pubertierende Jugendliche handelt. Bei letzteren erzeugt man schlimmstenfalls eine peinliche Situation mit einem darauffolgenden anstrengenden Wochenende. Der erste Fall kann eine ganze Karriere ruinieren. Auch Sachbearbeiter in Behörden können sehr unfreundlich werden, wenn man einfach hereinplatzt oder eintritt, obwohl ein „einen Moment noch“ statt eines „herein“ gerufen wird. Das eigene Anliegen kann man dann von vornherein vergessen.

Bei besonders gefährlichen Konstellationen, wie zum Beispiel bei Bewerbungsgesprächen oder bei dem Kennenlerntermin mit einer hochrangigen Führungsperson bei meinem Arbeitgeber zu Anfang dieses Jahres, die mehr als 1.800 Mitarbeiter managed, suche ich mir deshalb Hilfe und bitte andere anwesende oder vorbeilaufende Personen, für mich zu klopfen und das Feedback zu übersetzen. Wenn niemand anwesend ist, klopfe ich in nebenliegenden Büros an, in denen Mitarbeiter mit niedrigerem Status sitzen. Zwar habe ich hier dasselbe Kommunikationsproblem, aber immerhin verärgere ich damit nicht die Person, mit der ich ein wichtiges Gespräch habe. Kollateralschäden lassen sich nicht immer vermeiden. Auch hilfreich ist es, vorab per E-Mail darüber zu informieren, dass man durch geschlossene Türen nicht kommunizieren kann und zu verabreden, dass man klopfen und dann draußen warten wird. Das klappt aber auch nicht immer.

Kritisch sind für mich auch Parties in Wohnungen, in denen die Toiletten keine Schlüssel haben – dies findet man oft bei Eltern von kleinen Kindern. Welches Elternteil einmal die Situation erlebt hat, dass ein Vorschulkind Aa gemacht hat, den Hintern nicht sauber bekommt und die Tür von innen nicht wieder aufschließen kann, weiß warum. Auf solchen Parties höre ich weder, wenn jemand von außen klopft, während ich mein Geschäft verrichte, noch wenn jemand innen sein Geschäft verrichtet und panisch ruft „Nein„, wenn ich klopfe. Beide Situationen können peinlich enden – vor allem dann, wenn Vorgesetzte auf dieser Party anwesend sind. Auch hierfür gibt es Überlebensstrategien: Wenn ich in so einer Situation in der Toilette bin, kann ich andere zum Beispiel bitten, die Tür zu bewachen. Das ist allerdings auch nicht ganz unpeinlich. Oder ich singe in der Toilette, damit man von außen hört, dass sie besetzt ist. Auch das empfiehlt sich aber erst nach dem fünften Bier. In engen Toiletten kann man die Tür mit dem Bein blockieren – das ist aber ergonomisch recht ungünstig.

Ein Freund von mir hat übrigens eine schlüsselfreie Toilette, die er mit einem sehr intelligenten Warnsystem versehen hat – jedenfalls für nicht hörgeschädigte Menschen: Vor der Tür und neben dem Toilettensitz hängt eine Tröte. Wenn jemand auf die Toilette möchte, muss er zweimal tröten – wenn jemand drin ist, trötet er zurück. Ich finde das sehr amüsant, aber bin wirklich froh, dass ich dort niemals während einer Party auf’s Klo musste.

Mit meinem Cochlea-Implantat wird auch dieses Problem weitgehend der Vergangenheit angehören. Zumindest heute hat es funktioniert, als ich einen Meeting-Raum betreten wollte und nicht wußte, ob dort gerade noch ein wichtiges Meeting abgehalten wird. Sicher werde ich auch mit den Hörimplantaten in Zukunft nicht immer alles richtig verstehen. Aber viele dieser oben geschilderten Probleme werden mir seltener begegnen. Und das ist gut so!

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