Tag 2 – Clogs gehören verboten

Nach nur wenig Schlaf traue mich erst nicht, das elektrische Ohr einzuschalten, weil ich Angst habe, dass der gestrige Tag nur ein verrückter Traum war. Aber es funktioniert immer noch. Das Hörgerät bleibt auch heute den ganzen Tag draußen. Mittlerweile bin ich an einen Fensterplatz gewechselt und genieße die schöne Aussicht auf das hochsommerliche Hannover.

Ich höre die Schwester im Türrahmen sprechen, etwa 4 Meter entfernt, und verstehe einzelne Wörter. Ich verstehe meinen Bettnachbarn, der heute entlassen wird, zum ersten Mal richtig. Am Anfang hört sich wieder alles sehr Micky Maus-mäßig an; nach ein paar Minuten werden die Stimmen zunehmend natürlicher. Ich packe meine Sachen und bin kurz darauf entlassen und warte auf meine Familie – die ErstBesteHälfte (EBH) und Junior I kommen mich abholen.

Die Clogs meiner EBH sind die Hölle. Ich werde diese Schuhe verbieten lassen oder verbrennen. Der Parkautomat in drei Meter Entfernung gibt Kleingeld zurück. Überall unterhalten sich Menschen und ich schnappe Wortfetzen auf. Es ist der pure Wahnsinn.

Im Auto mache ich Musik an. Der Wagen hat eine Soundanlage von Canton, die nicht nur einen hervorragenden Klang sondern auch ordentlich Bass bietet. Die Kombination aus der Musik, die ich per Implantat höre und dem gefühlten Bass im Auto ist ein Musikerlebnis, das den gestrigen Abend nochmal bei weitem übertrifft. Ich kann es nicht beschreiben, es hört sich einfach nur unfassbar toll an. Ich hoffe, dass diese Fahrt nie endet und freue mich jetzt schon auf die nächsten berufsbedingten Fahrten nach Walldorf.

Wir fahren erst einmal ins Einkaufzentrum, um einen Doppelstecker zu kaufen, mit dem ich sowohl den Soundprozessor als auch die Kopfhörer meiner EBH an mein Handy verbinden kann. Sie kann damit meine Telefonate mithören und bei Bedarf dolmetschend eingreifen. Die Geräuschkulisse im Einkaufszentrum ist angenehm ruhig – das Hörgerät liefert hier einen undurchdringlichen Brei von Geräuschen und Rauschen, was sehr anstrengend ist. Ich lasse mich bei Saturn beraten und verstehe den Preis des gewünschten Adapters.

Wieder im Auto rufe ich Junior II über die Freisprechanlage an und verstehe erneut einige Wörter und sehr kurze Sätze. Ich bemerke aber auch, dass ich schnell müde werde und brauche eine Hörpause. Auf dem Weg nach Hause läuft wieder Musik. Interessanterweise sind manche Stimmen nach wie vor sehr „Micky Maus-mäßig“ – die Stimme von Freddy Mercury hört sich überwiegend furchtbar an. Bei vielen anderen Songs nehme ich die Stimmen allerdings deutlich natürlicher wahr. Bislang habe ich noch keinen Song gehört, der mich von der Instrumentierung her überfordert hat.

Unterwegs holen wir bei unserem Stammimbiss noch Döner für alle. Ich verstehe auch hier den Preis auf Anhieb. Das ist etwas, was das Leben sehr erleichtert, denn wenn man einen Preis nicht versteht und etwas Falsches bestätigt, wird die Situation oft ein bisschen peinlich und man hat das Gefühl, das Gegenüber glaube man wolle über den Preis diskutieren.

Zuhause angekommen fällt mir dann Junior II um den Hals. Die Kinder sind sehr neugierig und probieren alle möglichen Geräusche aus wie z.B. Pfeifen, Fingerschnippen, Kratzen mit dem Besteck und vieles andere mehr. Harte Geräusche wie Klackern und Knallen sind noch überproportional laut, Stimmen dagegen eher leise. Ich nutze mittlerweile überwiegend das lauteste Programm des Soundprozessors – die Programmbelegung wurde mit verschiedenen Lautstärkestufen belegt – und fahre die Geräuschempflindlichkeit etwas runter, weil Klackern und Scheppern sonst zu laut ist.

Nach der Begrüßung setze ich mich ans Klavier. Und merke, dass einige Tasten verstimmt sind. Ich konnte mit Hörgerät Töne nur mit 2-3 Tonabständen voneinander unterscheiden. Und jetzt merke ich auf Anhieb, welche Tasten verstimmt sind – Junior I bestätigt dies. Dann ein Test mit Gitarre – auch hier höre ich, dass die Saiten verstimmt sind. Und dann teste ich mein Schlagzeug, das ich seit 2 Jahren spiele. Anfangs hören sich alle Drums gleich an – Snare, Hängetoms, Stand-Tom und sogar die Bassdrum. Nachdem ich aber ein paar Minuten die unterschiedlichen Drums abwechselnd geschlagen habe, kristallisieren sich Hörunterschiede heraus – nach ca. 10 Minuten sind dann klare Unterscheidungen hörbar. Die Becken hören sich von Anfang an wundervoll an – die Hörgeräte haben hier nur ein Scheppern übertragen. Mit Impantat kann ich die Tonhöhen der Becken klar voneinander unterscheiden.

Junior I an der Gitarre und ich am Schlagzeug versuchen eine erste vorsichtige Session. Und zum ersten Mal überhaupt kann ich mit den Drums den Takt zu seinen Gitarrenakkorden spielen und rutsche nur ein wenig aus dem Takt heraus.

Abends kommen die ersten Nachbarn zum Feiern und ich kann zum ersten Mal in den 11 Jahren, in denen ich hier wohne, ein Gespräch im Dunkeln verfolgen. Ich verstehe nicht alles und auch nur dann, wenn der Sprecher oder die Sprecherin direkt zu mir spricht und nicht zu weit entfernt sitzt. Zurückhaltende Personen verstehe ich schlechter als Emotionsbündel. Erdnussflips machen einen Heidenlärm – ich werde das Zeug nicht mehr essen. Neben dem besseren Hören kommt dann noch eine Gewichtsabnahme hinzu. Das Leben ist schön.

 

Schreibe einen Kommentar