Tag 35 – Schau mir in die Augen, Kleines

Ein voller Hörtag! Er beginnt mit einer weiteren technischen Sitzung bei meinem Audiologen. Die hohen Frequenzen werden noch ein klein wenig abgeregelt, um den Zischeffekt bei scharfen Konsonanten und Knistergeräuschen zu verringern. Das ist ein schwieriger Balanceakt – einerseits will man natürlich komfortabel und so normal wie möglich hören, ohne dass bestimmte Frequenzen hervorstechen. Andererseits will man so viel wie möglich hören. Für mich sind insbesondere diese hohen Frequenzen, Konsonanten wie S, Ch, SCH, K, P oder F ein tolles Hörerlebnis, weil dieser Lautbereich von den Hörgeräten nicht abgedeckt werden konnte. Im Hochtonbereich höre ich besonders schlecht und selbst mit einer Hörverstärkung von 80 Dezibel konnten die Hörgeräte diese Frequenzen nicht hörbar machen. Ich habe diese Töne also Jahrzehnte lang nicht gehört und die Freude darüber, dass ich sie wieder wahrnehmen kann, ist weitaus größer als das Zischen, das sich ein bißchen wie eine Übersteuerung eines Verstärkers anhört, bei dem die Höhen zu stark eingestellt sind. Ich gehe auch davon aus, dass ich mich erst einmal wieder an diese hohen Frequenzen gewöhnen muss und dass mein Gehirn die gefühlsmäßige übersteuerte Höhenwiedergabe irgendwann ausblendet. Momentan ist das alles neu und auf neue Dinge achtet das Gehirn besonders stark.

Es wird eine weitere Messung gemacht, bei der ich die Lautstärke der einzelnen Elektroden nicht mehr nacheinander separat auf einer Skala von sehr leise bis sehr laut einschätze, sondern es werden fünf verschiedene Töne unterschiedlicher Tonhöhe nacheinander abgespielt. Meine Aufgabe besteht darin, die Lautstärke dieser fünf Töne zu vergleichen und auf einen identischen Level zu bringen. Das ist bei unterschiedlichen Tonhöhen gar nicht so einfach. Das Endergebnis dieser Einstellung gefällt mir allerdings weniger gut – der Sound ist etwas dumpfer und weniger klar und ich habe das Gefühl, damit etwas schlechter zu verstehen. Also kehren wir wieder zu den vorherigen Einstellungen zurück, mit denen ich von Anfang an gut gefahren bin und justieren die Höhen noch ein klein wenig herunter.

Generell ist es sehr schwierig, auf Anhieb oder in kurzer Zeit zu entscheiden, mit welcher Einstellung man am besten hört. Man braucht Zeit, um sich an ein neues Hörgefühl zu gewöhnen. Das kann Wochen oder sogar Monate dauern – und dies macht die Einstellung von Hörgeräten oder auch Soundprozessoren so schwierig. Auch Alltagssituationen lassen sich im Labor nur bedingt nachstellen. Letztendlich ist das Bauchgefühl sehr wichtig – man muss sich mit dem Hörprogramm wohlfühlen und es akzeptieren. Manche Dinge oder Einstellungsparameter werde ich voraussichtlich erst nach mehrmonatiger Eingewöhnungszeit ausprobieren und beurteilen können, wenn mein Gehirn sich noch etwas besser an das Implantat gewöhnt hat. Der Plan ist also, es generell bei den Grundeinstellungen zu lassen, die wir gestern zusammen festgelegt haben und damit weiter zu experimentieren. Die alternative Kodierungsstrategie wird dann in 3 oder 6 Monaten nochmal ein Thema werden.

Vom Tisch ist erst einmal das Thema Hybridversorgung. Der Soundprozessor ist gleichzeitig auch ein Hörgerät und kann kombiniert verwendet werden – die hohen Töne werden ins Implantat geschickt und die tiefen wie beim Hörgerät ins Ohr geleitet. Mein Hörvermögen war schon vor der Implantation so schlecht, dass ich hier kaum einen Vorteil erzielen werde. Durch die Operation wird das Resthörvermögen in der Regel um weitere 10 bis 15 Dezibel verschlechtert, so dass ein Erfolg hier sehr unwahrscheinlich ist. Und es kann bis zu 6 Monate dauern, bis das vorhandene Restgehör sich nach der Operation wieder regeneriert. Ich vermisse das Ohrpassstück und den Schall im Ohr auch nicht wirklich und beschließe, dieses Thema erst einmal abzuhaken. Das Hören rein über den Soundprozessor ist hervorragend und ich brauche aktuell keine weitere Baustelle, die das Thema mit geringer Erfolgsaussicht noch weiter verkompliziert.

Nach dieser Anpassungssitzung gibt es eine Informationsveranstaltung der Hannoverschen Cochlear-Implant-Gesellschaft e.V. Dies ist eine Selbsthilfegruppe von CI-Trägern, die sich um Belange implantierter Menschen kümmert. Ich lerne ein paar sehr nette Menschen kennen, die ebenfalls vor kurzem implantiert worden sind und bekomme einige wertvolle Tipps von Hellmuth, der die Veranstaltung leitet. Es geht um Hörerfolge, Tipps im Umgang mit der Bürokratie und auch einfach darum, sich ein bißchen auszutauschen, was gut tut – auch wenn ich mich ein bißchen wie ein Alien fühle, weil mein rapider Hörerfolg wirklich sehr außergewöhnlich ist. Man bekommt fast ein schlechtes Gewissen gegenüber anderen Implantat-Trägern, die weitaus mehr mit dem CI zu kämpfen haben.

Direkt nach dem Mittagessen findet dann eine weitere Hörtrainigssession bei meiner Logopädin, statt. Ich hatte bei den gestrigen Hörtrainings, die ich am Nachmittag mit den Hörtrainigs-Apps durchgeführt habe, aufgeschrieben, mit welchen Wörtern oder Buchstabenkonstellationen ich Probleme habe. Es sind überwiegend weiche Konsonanten mit darauffolgenden dunklen Vokalen, die schwierig zu verstehen sind: Mango, Maracuja, Melone aber auch Wörter wie Potsdam, Oldenburg oder Maurer bereiten mir noch Probleme. Auch die Unterscheidung zwischen d, b und g ist schwierig – laden, laben, lagen. Ich habe hier noch viel Arbeit vor mir; die Erfolgsaussichten sind aber sehr gut. Toll ist, dass ich auch schon ganze Sätze ohne Mundbild verstehe und kurze Geschichten, die mir vorgelesen werden. Ich hätte vor der Implantation nie für möglich gehalten, dass dies überhaupt irgendwann einmal möglich sein wird. Natürlich muss ich mich noch sehr konzentrieren und ich werde nie normal hören können. Aber die Verbesserung im Vergleich zu den Hörgeräten ist immens und meine Lebensqualität ist schon nach fünf Wochen mit dem CI eine ganz andere Liga.

Ich werde meinen Gesprächspartnern jetzt auch endlich in die Augen schauen können. Stark hörgeschädigte Menschen sind meistens auf das Lippenlesen angewiesen und schauen dem Gegenüber in Gesprächen deshalb nicht in die Augen, sondern auf den Mund, was die Kommunikationssituation etwas unpersönlicher macht. In die Augen habe ich Menschen eigentlich nur dann geschaut, wenn ich selber gesprochen habe – oder wenn ein Blick mehr sagen sollte als 1000 Worte. Meine Umgebung ist daran gewöhnt, aber generell reagiert man eher etwas konfus, wenn es keinen Augenkontakt zum Zuhörer gibt. Für mich ist jetzt das direkte Gespräch mit Augenkontakt beim Zuhören ungewöhnlich – die Situation wirkt auf mich besonders intim und ich habe ein bißchen das Gefühl, als würde ich beim Zuhören flirten. Ich werde meine Logopädin morgen besser mal fragen, ob ich zu lange oder zu intensiv in ihre Augen geschaut habe – vor dem Hintergrund der #metoo-Debatte kann man mit so etwas ja nicht vorsichtig genug sein.

Nach dem Hörtraining gibt es im Deutschen Hörzentrum eine Informationsveranstaltung zu technischem Zubehör. Es gibt Richt- und Tischmikrofone für Meetings, Lichtblitzanlagen für Tür und Telefon inklusive Rauchmeldern und noch vieles mehr. Lichtwecker mag ich persönlich nicht – diese Teile blitzen beim Alarm mit hoher Lichtintensität und ich träume kurz vor dem Aufwachen dann immer, dass ich fotografiert werde, was ich direkt am Morgen gar nicht mag. Also benutze ich einen Vibrationswecker, der unter dem Kopfkissen liegt. Das klappt prima. Die Rauchmelder werden direkt beantragt: Das Deutsche Hörzentrum stellt die Verordnung direkt aus und der technische Berater kümmert sich dann um die Weiterleitung zur Krankenkasse. Für das berufliche Equipment, das insgesamt etwa 10.000 Euro kosten wird, wird das Integrationsamt aufkommen. Dazu schreibe ich mehr, wenn die Geräte im Einsatz sind.

Anschließend bin ich k.o. Es geht es zurück ins Hotel und ich lege mich für ein paar Stunden aufs implantierte Ohr. Dann wird noch ein bißchen Blog geschrieben und gegen 23 Uhr drehe ich noch eine kleine Runde durch das nächtliche Hannover, tanke das Auto an einer Nachttankstelle und freue mich darüber, dass ich die unfreundliche Tankstellenfrau, die per Kopfhörer und Mikrofon durch die geschlossene Tür kommuniziert, gut verstehe. Vor lauter Freude schicke ich sie gleich dreimal durch den Laden, um etwas Schokolade zu besorgen. Ach, und eine kleine Tüte Chips. Und Cola brauche ich noch, sorry, vergessen. Verstehen kann Spaß machen und ein bißchen Bewegung schadet auch schlecht gelaunten Tankstellenfrauen nicht.

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