Tag 45 – Platz

Über das Wochenende besucht mich ein alter Freund aus der Schweiz. Wir sehen uns zum ersten Mal seit meiner Implantation und unsere Unterhaltungen machen noch mehr Spaß als sonst. Ich schaffe es mittlerweile auch ganz gut, mich im Kerzenlicht zu unterhalten – das ging mit Hörgeräten gar nicht. Wenn man das Lippenablesen zur Hilfe braucht, ist man auf ein gut beleuchtetes Mundbild angewiesen. Romantische Unterhaltungen bei Kerzenlicht oder Abends im Bett sind fast unmöglich.

Hörschädigung ist oftmals ein echter Gemütlichkeitskiller: Den Gesprächspartner mit der Taschenlampe anzuleuchten schafft eine Verhörsituation. Und Abends unter Flutlicht zu sitzen ist im Fußballstadion zwar toll, aber auf der Terrasse oder im Garten eher lästig. Wir verwenden zu Hause gerne Campingleuchten zur Lippenableseunterstützung und stellen viele Kerzen auf. Wenn ich dennoch gar nichts verstehe bitte ich die sprechende Person, sich ein angeschaltetes Smartphone vor das Gesicht halten. Der Lichtschein reicht im Normalfall aus, um das Mundbild zu erkennen. Auch das ist allerdings nicht besonders romantisch. Ganz besonders schwierig ist es dann, wenn die sprechende Person das Licht im Rücken hat. In diesem Fall sieht man gar keine Gesichtsdetails mehr und das Verständnis tendiert gegen Null.

Menschen mit Hörschädigung müssen deshalb immer strategisch günstig sitzen, wenn sie möglichst viel verstehen wollen. Möglichst in der Mitte, um alle sprechenden Personen gut zu sehen. Möglichst mit dem Licht im Rücken, damit keine Gesichter von hinten beleuchtet werden. Manchmal rechts oder links – je nachdem, welche Ohr das bessere ist. Man braucht ein bißchen Mut und Selbstüberwindung, um die „besten“ Plätze zu beanspruchen – vor allem bei Gesprächen mit Vorgesetzten, die ich gnadenlos umsetze, wenn die Sitzordnung für mich suboptimal ist. Meine Freunde und Nachbarn wissen mittlerweile, warum ich mich bei jeder Zusammenkunft als erster auf einen bestimmten Platz setze und dabei auf niemanden anderen Rücksicht nehme – außer natürlich auf körperlich eingeschränkte Personen, die als Rollstuhl- oder Rollatorfahrer bestimmte Plätze benötigen. Und warum Plätze getauscht und Stühle gerückt werden müssen, wenn ich später zu einer Runde stoße. Das ist unangenehm, weil man für recht viel Aufruhr sorgt. Aber diese optimalen Sitzpositionen sind enorm wichtig für das Verstehen und Bestandteil eines inklusiven Zusammenlebens. Das wird sich auch mit Cochlea-Implantat nicht ändern, aber es wird alles etwas einfacher werden, weil ich auch im Dunkeln immer besser hören kann.

Ebenfalls nicht einfach für hörgeschädigte Menschen ist das Pflegen von Freundschaften, die weiter entfernt wohnen. Die meisten meiner Freunde und auch Familienangehörigen wohnen weit weg – teilweise sogar im Ausland. Das macht ein persönliches Treffen vor allem dann schwierig, wenn Familien dazugehören. Denn eine weite Reise mit Kindern muss gut geplant werden und ist auch nicht ganz billig.

Wenn man nicht oder nur eingeschränkt telefonieren kann, fehlt ein wichtiger Draht zur Pflege solcher Freundschaften. Ich kompensiere dies soweit wie möglich durch das Schreiben von E-Mails und Textnachrichten oder Chatten. Ein Telefonat ist natürlich viel einfacher, als rein textbasierte Kommunikation. Man kann in derselben Zeit mehr besprechen und direkt auf den Gegenüber eingehen. Man hört die Stimme und bekommt mehr nonverbale Informationen als beim Schreiben. Es ist einfacher, eine Nummer zu wählen als sich hinzusetzen, und seine Gedanken in eine E-Mail zu packen. Zum Glück habe ich Freunde, die nicht böse sind, wenn man sich mal eine Weile nicht meldet, sondern die sich freuen, wenn man sich meldet oder treffen kann. Manche sehe ich jahrelang nicht und bei einem Treffen fühlt es sich dann an, als wäre gerade mal eine Woche vergangen. Ich freue mich dennoch sehr darauf, in Zukunft über Videotelefonie oder bald auch reines Telefonieren leichter Kontakt halten zu können. Einfach mal 10 Minuten quatschen können – das ist etwas, was mir bislang sehr gefehlt hat.

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