Tag 5 – Traumdeutung

Ich schlafe nach wie vor schlecht und wache sehr früh auf, weil ich ein überzeugter Rechtsschläfer bin und auf der linken Seite nur schlecht Ruhe finde. Der Kopf tut nach dem Aufstehen weh und ist verspannt, wenn ich liege. Es scheint ungefähr eine Stunde zu dauern, bis sich meine Physiognomie wieder auf die aufrechte Stellung eingestellt hat und ich mich mich wohl fühle und das elektronische Ohr aufsetze. Das Hörgerät des linken Ohres bleibt auch heute draußen.

Den Morgen widme ich Spotify und erstelle Playlists mit meinen Lieblingssongs aus den 80ern und meinen Indie-Favoriten. Die ErstBesteHälfte (EBH) steht ein wenig später verschlafen hinter mir und will mir ihren nächtlichen Traum erzählen. Traumerzählungen sind für Hörgeschädigte ein echter Worst-Case, denn es ist alles möglich und die bekannten, logischen Erzählmuster funktionieren hier nicht mehr, was Kombinieren nahezu unmöglich macht. „Erst saß ich im Auto und fuhr in den Kühlschrank und dann tauchte Herr Meier auf und spielte „Another Brick in the Wall“ auf einem himmelblauen Kitchen-Aid-Toaster“. Wer das auf Anhieb versteht, hat in der Kategorie „Hörgeschädigt“ eigentlich nichts mehr zu suchen. Kleiner Tipp für die Hersteller von Hörtest-Apps: Zusätzlich zu den Kategorien Einfach/Mittel/Schwer noch die Schwierigkeitsstufe „Ehefrau erzählt Traum“ einbauen – und dann einfach beliebige Wortkombinationen bilden und miteinander verknüpfen.

Den Vormittag lasse ich ansonsten ruhig angehen und kümmere mich um Schriftkram, ein wenig Haushalt und das Bewässern der Pflanzen, die unter der andauernden Trockenheit stark leiden. Ich merke schnell, dass ich körperlich noch nicht wirklich belastbar bin und auch ohne Hörtraining rasch abbaue. Nach einer Stunde Hörpause versuche ich dann zum ersten Mal seit vielleicht 30 Jahren, meine Mutter anzurufen. Leider ist sie nicht erreichbar, aber ich verstehe tatsächlich die Durchsage am Telefon „der gewünschte Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal“. Danach kommt Kauderwelsch, was sich hinterher als englische Version dieser Durchsage herausstellt. Das überfordert mich natürlich. Noch…

Am Nachmittag steht ein Termin bei meinem Hörgeräteakustiker an, um mein bisher genutztes Ohrpassstück rechts an die Größe des Soundprozessors anzupassen, damit ich bei der Erstanpassung testen kann, ob die Hybridfunktion nutzbar ist, die zusätzlich zur elektronischen Übertragung an das Hörimplantat tiefe Töne wie ein Hörgerät in die Hörmuschel sendet. Auch dieser Termin ist toll: Ich verstehe meinen Akustiker auf Anhieb deutlich besser als mit Hörgeräten. Er freut sich sehr über meinen Erfolg und gibt mir wertvolle Tipps für die Beantragung von Zubehör, das ich im Beruf brauchen werde, mit auf den Weg  – wie z.B. Richt- oder Raummikrofone für ein besseres Hörverständnis in Meetings.

Anschließend steht noch ein kurzer Besuch im Uhrenladen an. Die Verkäuferin verstehe ich ohne Mundablesen nicht und muss Sie auf Gesichtskontakt hinweisen – dann ist das Verständnis aber prima. Auch beim Bäcker, wo ich mir anschließend einen Latte gönne, verstehe ich nicht so gut, sondern muss den Preis an der Kasse ablesen. Vielleicht liegt es an der Hitze heute oder an der undeutlichen Artikulation der Verkäuferin. Auch im Fahrradladen, wo ich zusammen mit Junior I Zubehör besorge, verstehe ich kein Wort. Auch wenn mein Sohn mir sagt, dass selbst er den Fahrradmenschen sehr schlecht verstanden hat sind die heutigen Einkaufserlebnisse nach den ganzen euphorischen Begebnissen der letzten Tage ein bißchen frustrierend. Ich muss aufpassen, dass ich nicht zu schnell zu viel erwarte.

Als ich später zuhause im Garten sitze, fällt mir ein Geräusch auf, das meine EBH als Vogelzwitschern identifiziert. Ich höre tatsächlich Vogelzwitschern. Das klingt übrigens viel schöner als feierabendreife Bäckereifachverkäuferinnen mit Akzent. Ebenso schön ist es, die Stimme meiner EBH am Telefon zu hören. Wir versuchen ein erstes Telefonat und ich verstehe kurze Sätze und einzelne Wörter gut; bei längeren Sätzen und wenn ich nicht weiß, worum es geht, stoße ich schnell an meine Grenzen.

Am frühen Abend versuche ich dann erneut, meine Mutter anzurufen. Meine EBH hört das Gespräch mit, um dolmetschen zu können, wenn es gar nicht mehr geht. Meine Erwartungen sind sehr niedrig, aber es ist einen Versuch wert. Tatsächlich verstehe ich am Anfang einfache Sätze und Antworten, so lange ich das Gespräch führe. Meine Mutter ist sehr ergriffen und kann es kaum fassen. Ich baue beim Gespräch allerdings sehr schnell ab und am Ende geht es wieder nur mit dolmetschender Ehefrau – aber insgesamt ist das ein toller Erfolg und ich habe das sichere Gefühl, irgendwann wieder halbwegs telefonieren zu können. Einen Job bei der Telekom-Hotline werde ich natürlich auch mit zwei Implantaten nicht machen können. Es gibt Schlimmeres.

Anschließend rufe ich noch einen sehr guten Freund an, der nicht über die Implantation informiert war und den ich überraschen möchte. Zu Beginn des Gespräches bemerkt er nicht, was an der Situation ungewöhnlich ist. Erst als ich ihn frage, wann wir zum letzten Mal telefoniert haben, wird er stutzig und begreift, dass tatsächlich ich am anderen Ende bin und ihn zumindest teilweise auch ohne dolmetschende Hilfe verstehe. Das ist auf der einen Seite zwar etwas ernüchternd, weil ich ich davon ausgegangen bin, dass er die Fassung verliert, wenn ich ihn verstehe, aber andererseits eigentlich schön, denn es zeigt mir, dass meine Umgebung mich eigentlich gar nicht als hörbehindert wahrnimmt, auch wenn sie alles dreimal sagen muss.

Am Abend bin ich richtig k.o. Das elektronische Ohr bleibt bis zum Schlafen gehen draußen. Ich brauche Ruhe.

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