Tag 55-60 – Alltag

Mein Hörimplantat ist in den letzten Tagen mehr und mehr alltäglich geworden. Das ist einerseits gut, weil es ein Teil von mir geworden ist, das nicht mehr auffällt. Ich habe mich daran gewöhnt. Ich setze die Spule an die richtige Stelle am Kopf, ohne nachdenken oder justieren zu müssen. Ich greife nicht mehr ins Ohr, wenn ich den Soundprozessor ablegen will, wie ich es jahrzehntelang mit den Ohrpassstücken meiner Hörgeräten gemacht habe. Ich habe mich daran gewöhnt, die Fernbedienung für den Soundprozessor immer dabei zu haben. Und ich freue mich dennoch über jeden kleinen und großen Hörerfolg. In dieser Woche fällt mir dazu spontan ein:

  • Songtexte verstehen: Klappt allerdings nur bei deutschen Songs, die ich gut kenne.
  • Videos auch ohne Untertitel verstehen: Einen tollen Vortrag von Sascha Lobo zum Thema „Deutschland spricht“ habe ich auch ohne Lippenablesen verstanden. Und zwar deshalb, weil Mundbild und Ton nicht 100%ig synchron waren. Erst wollte ich das Video deshalb nicht weiterschauen, habe mich dann aber doch entschieden es zu versuchen – und es hat gut geklappt.
  • Ein Videochat mit einem guten Freund und Arbeitskollegen – auch hier ohne synchrones Lippenablesen, weil die Verbindung nicht gut genug war. Dennoch haben wir fast eine halbe Stunde gesprochen und ich habe fast alles mitbekommen.
  • Zwei Werkstatt-Termine samt Beratungsgespräch wegen eines Gebrauchtwagenkaufes. Auch hier: Alles verstanden, kaum Nachfragen notwendig.

Andererseits kommen immer weniger neue Erfolge hinzu und die Euphorie der ersten Tage und Wochen verfliegt. Man gewöhnt sich schnell an eine stark aufsteigende Erfolgskurve und daran, jeden Tag neue überraschende Hörerfolge zu feiern. Vieles wird schnell selbstverständlich und manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich mich ein wenig ärgere, wenn ich zum Beispiel die Eieruhr nicht höre oder jemanden nicht auf Anhieb gut verstehe. Man wird schnell erfolgsverwöhnt.

Trotz Cochlea-Implantat werde ich immer schlechter hören als andere. Ich werde in größeren Gesprächsrunden immer Schwierigkeiten haben, allen Gesprächen zu folgen. Ich werde schlecht verstehen, wenn ich müde oder erkältet bin. Ich verstehe Englisch immer noch nicht so gut, wie ich es möchte und kann immer noch keinen Filmen ohne Untertitel folgen. Ich muss mich nach wie vor sehr konzentrieren, um gut hören zu können.

Und es gibt Tage, wo das Implantat nervt. Es gibt Tage, wo mich die Spule am Kopf nervt und das Kabel daran und der Soundprozessor, der doch um Einiges größer ist, als ein Hörgerät. Mich stört auch, dass die Narbe hinter dem Ohr immer noch gut sichtbar ist und etwas verschwurbelt aussieht. Das wird sich allerdings noch legen – in einem Jahr etwa wird man nur noch einen kleinen Silberstreif sehen. Auch das Implantat selbst sieht man bei mir im Kopf. Denn es wird nicht komplett in den Knopfknochen gefräst, sondern nur der tiefere Teil, so dass die etwa 1-Euro-große Rundung am Kopf, in welcher der Magnet liegt, gut sichtbar ist. Wenn Haare darüber wachsen, fällt das nicht auf; bei meiner Vollglatze ist es nicht zu übersehen.

Ich habe noch viel Arbeit vor mir. Ich müsste mehr gezielte Hörtrainings machen und mir und meinem elektronischen Ohr vor allem mehr zutrauen. Ich telefoniere zum Beispiel immer noch viel zu selten, obwohl es eigentlich immer recht gut klappt. Ich kann mir in Gesprächen nur schwer abgewöhnen, auf das Mundbild meines Gegenübers zu achten – anstatt ihm oder ihr in die Augen zu schauen. Ich bin zu faul, die Untertitel beim Fernsehen abzuschalten und zu versuchen, Sendungen auch ohne Untertitelung zu verstehen. Ich will zu schnell zu viel und stoße momentan häufig an meine Grenzen, denn natürlich sind auch meine Ressourcen begrenzt und man braucht ab und zu einfach auch mal eine Pause.

Vor allem hole ich gerade ein bißchen Luft für die Implantation meines linken Ohres in der nächsten Woche. Am Montag geht es wieder in die Medizinische Hochschule Hannover und voraussichtlich am Dienstag wird das zweite Ohr implantiert. Ich bin nervös und habe wieder etwas Angst vor der Operation. Ich überlege, ob nicht auch ein Ohr ausreichend ist – immerhin höre ich damit viel besser, als ich es mit Hörgeräten je konnte. Ich habe Angst, mein Glück überzustrapazieren. Ich habe auf dem rechten Ohr derart schnelle Erfolge erzielt, dass ich mir kaum vorstellen kann, auf der linken Seite ein ähnliches Erfolgserlebnis zu erfahren. Und ich bin gerade froh, dass die rechte Seite gut verheilt ist und ich wieder gut schlafen und Sport treiben kann – das wird ab nächste Woche erst einmal wieder nicht gehen.

Aber selbst wenn es nur halb so gut funktionieren wird, werde ich damit deutlich mehr als im Moment hören. Denn mein linkes Ohr liegt seit der ersten Implantation brach. Das Hörgerät trage ich gar nicht mehr, weil das Sprachverstehen im Vergleich zum Cochea-Implantat einfach nur unterirdisch schlecht ist. Es kann also nur besser werden. Und das wird es.

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