Tag 24 – Lemminge

Das war eine kurze Nacht nach der rauschenden Party gestern Abend – aber fünf Stunden Schlaf müssen ausreichen, weil es viel aufzuräumen gibt. Dank der tatkräftigen Hilfe meiner Nachbarn und übernachtenden Gäste ist das Partychaos schnell beseitigt. Den Rest des Nachmittags verbringe ich Fußball schauend auf der Couch – ein bißchen chillen, wie Junior I gerne sagt, darf heute ruhig mal sein.

Am frühen Abend bringe ich meine Schwester zum Zug. Ich bin knapp 12 Jahre täglich von Scheeßel nach Hamburg gependelt – 50 Minuten Fahrzeit im meist pünktlichen Metronom, der zwischen Bremen und Hamburg fährt. Bei der Auswahl unseres Wohnortes war uns wichtig, dass wir eine gute Zugverbindung haben, denn morgens mit dem Auto nach Hamburg zu fahren ist recht anstrengend und stauintensiv. Man gewöhnt sich schnell an die Fahrerei und kann morgens noch ein bißchen im Zug dösen und Abends auf der Rückfahrt noch ein bißchen offline arbeiten.

Nicht gewöhnt habe ich mich an Verspätungen, Zugausfälle, Gleiswechsel und umsortierte Wagenreihungen in Fernzügen. Falls wirklich einmal ein ICE pünktlich von Hamburg nach München fährt, bei dem die Wagenreihung wie vorgesehen ist und man nicht den gesamten Bahnsteig entlang sprinten muss, um in die richtige Zughälfte zu gelangen, wird ein Chor von Engeln im Bahnhofsdach erscheinen, Hosianna rufen, alle Menschen im Bahnhof werden sich werden vor Freude weinend in den Armen liegen und selbst die Informationsschalterbeamten werden sich ein Lächeln nicht verkneifen können. Vermutlich bricht dann der Zentralcomputer des Hauptbahnhofes zusammen, weil dieser Fall noch nicht programmiert wurde. Aber der Zug steht richtig.

Für Menschen mit einer Hörbehinderung sind Fern- und auch Pendelreisen mit der Deutschen Bahn eine Herausforderung, denn ich verstand bislang keine Zugdurchsagen. Die Wagenreihung wird auf größeren Bahnhöfen zwar meistens auf den Informationsbildschirmen am Bahnsteig angezeigt, wobei man aber nie weiß, ob es die geplante oder die tatsächliche Anordnung der Waggons ist, und auch die Verspätung sieht man häufig dort, aber oftmals gibt es spontane Änderungen, die nicht visuell angezeigt werden. Als reisender Hörgeschädigter hat man hier zwei Optionen:

Entweder versucht man einen der wild umher hastenden Mitreisenden anzuhalten und zu fragen, was los ist. Das ist aber ein bißchen wie das Blocken beim American Football, weil jeder möglichst schnell woanders hin will, bevor der Scheißzug losfährt. Schlimmstenfalls wird mal also von unzerstörbaren Koffern umgecheckt und kann froh sein, wenn man anstatt im gewünschten Zug nicht der Notfallambulanz landet.

Oder aber man macht es wie Lemminge und läuft einfach der Masse hinterher. Das ist allerdings dann schwierig, wenn nicht alle Mitreisenden alle auf denselben Zug warten – oftmals stehen ja noch Leute dort, die eigentlich schon vor 2 Stunden losfahren wollten und gelegentlich findet man auch ein paar bemitleidenswerte Reisende, die tatsächlich davon ausgehen, dass er Zug zur angegebenen Zeit in der angegebenen Reihenfolge vom angegebenen Gleis abfährt. Arme Anfänger – der Profi steht in Hamburg auf halber Höhe der Treppe zum Bahnsteig, so dass er sowohl die Informationsbildschirme am Gleis als auch die zentrale Informationstafel im Bahnhof gut erkennen kann und dabei nicht umgerannt wird. Schlimmstenfalls hastet man also der falschen Meute hinterher und landet statt in Paderborn statt Bremen – dann ist der Tag endgültig gelaufen.

Das ist aber alles Kleinkram gegen das zweitgrößte Problem hörgeschädigter Bahnreisender: ICE-Zugfahrten mit gefühlter Überschallgeschwindigkeit in Regionalbahnhöfen. Davor wird per Durchsage gewarnt. Wenn man die nicht mitbekommt, weil der Zug von hinten naht und zu nah am Gleis steht, kann es übel enden. Ich bin deshalb auf Regionalbahnhöfen dran zu erkennen, dass ich mich sicherheitshalber in der Mitte des Bahnsteiges an einer Laterne festklemme. Meine Sicherheit ist mir wichtiger als der Ruf, schon Morgens besoffen auf den Zug zu warten.

Das absolute Katastrophenhighlight für hörgeschädigte Menschen beim Bahnreisen sind allerdings Zugtoiletten. Natürlich versucht man als zivilisierter Mensch, diese nach Möglichkeit zu umgehen und sich vor oder nach der Fahrt zu entleeren. Manchmal geht es aber nicht anders. Die Toiletten im Metronom sind für Deutsche Bahnverhältnisse sehr sauber; das ist wirklich okay. Schwierig wird es aber dann, wenn man gerade auf dem Scheißhaus sitzt und der Zugbegleiter klopft und nach einer Fahrkarte ruft, was man wegen des Zuggeratters als Hörgeschädigter aber nicht hört. Ein nicht reagierender Toilettenreisender ist für Zugbegleiter ein potentieller Schwarzfahrer. Potentielle Schwarzfahrer muss man erwischen – also wird die Toilettentür dann mit dem Generalschlüssel geöffnet. Das kann peinlich sein, wenn man sich zum Beispiel gerade den Hintern abwischt. Ich habe mir deshalb angewöhnt, die Tür in Metronom-Zugtoiletten mit dem rechten Fuß zu blockieren (linke Toiletten gibt es dort nicht, warum auch immer) und den linken als Gegenstütze an der Zugtoilettenwand zu platzieren. Damit ist man halbwegs abgesichert gegen rabiate Zugbegleiter; es gibt allerdings durchaus ergonomischere Darmentleerungspositionen.

Das alles wird jetzt etwas einfacher, denn: Ich habe tatsächlich die Durchsagen am Bahnhofsgleis verstanden. Sowohl die Warnung von der ICE-Zugdurchfahrt als auch die angekündigte 5-minütige Verspätung mit Gleiswechsel. Ich habe mich wohl noch nie so sehr über eine Verspätung gefreut und werde jetzt vielleicht auch so lange wieder Bahn fahren, bis ich alle Durchsagen kenne. Dann wird es langweilig.

Abends sitzen wir wieder mit den Nachbarn zum Restegrillen zusammen. Ich bin wegen des kurzen Schlafs und dem Aufräumen ziemlich k.o. und folge der Unterhaltung nur am Rande. Später kommt mein Tennispartner noch vorbei und wir unterhalten uns etwa 30 Minuten lang richtig gut, betrachten den wunderbaren aufgehenden roten Vollmond und kurz danach geht es ins Bett. Ich brauche Schlaf und hoffe, dass ich nicht von Zugbegleitern träume.

Mond über Scheeßel

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