Tag 21 – Smalltalk

Momentan vergeht kein Tag ohne schöne Erlebnisse. So viele Dinge sind einfacher geworden, weil ich einfach mehr verstehe. Es ist nicht so, dass ich mein Leben mit Hörgeräten als schwer empfunden habe. Natürlich macht so ein Handicap vieles schwieriger. Natürlich gibt es Momente, in denen man seine Ohren verflucht. Aber letztendlich ging es mir immer gut damit – ich habe einen tollen Job, eine tolle Familie, viele Freunde, ein schönes Zuhause und Spaß am Leben. Meine Mutter sagte mir früher immer: Was uns nicht umbringt, macht uns stärker. Diese Stärke sieht man nicht immer auf den ersten Blick: Man sieht den Rollstuhl vor der Treppe, den Blindenstock am Gehsteig, das Hörgerät oder die körperliche Fehlbildung. Man sieht aber nicht (oder nur bei Menschen, die man sehr gut kennt) das Positive, das ein Leben mit so einem Handicap mit sich bringt: Die Fähigkeit, damit umzugehen und trotz allem glücklich zu sein. Das klappt natürlich nicht bei jedem – aber das ist bei Menschen ohne Handicap nicht anders.

Schwerhörigkeit hat neben der Hörbeeinträchtigung selbst zwei große Nachteile gegenüber anderen Behinderungen: Zum Einen sieht man die Beeinträchtigung nicht. Man sieht vielleicht ein Hörgerät oder Cochlea-Implantat, aber im Vergleich zu einem Rollstuhl oder anderen deutlich sichtbareren körperlichen Einschränkungen wiegt dies auf den ersten Blick nicht so schwer. Du kannst ja alles – die Hörgeräte sind doch so klein. Ich kann fast alles, das stimmt. Aber was ich schlecht kann, ist verbale zwischenmenschliche Kommunikation. Ich verstehe andere Menschen schlecht. Auch damit kann man ein tolles Leben führen, aber es schränkt viel mehr ein, als man gemeinhin glaubt. Denn Verständigung ist die Basis des sozialen Zusammenlebens.

Ich habe Freunde, die im Rollstuhl sitzen – keiner von ihnen würde mit mir tauschen wollen. Auch blinde Menschen, die ich im Lauf meines Lebens kennengelernt haben, würden niemals mit mir tauschen wollen. Ich mit ihnen allerdings auch nicht – denn im Endeffekt lernt jeder, mit seinem persönlichen Handicap klarzukommen. Und man kann die Vor- und Nachteile verschiedener Behinderungen nicht vergleichen oder gegeneinander aufrechnen.

Zum Anderen kann man sich schlecht oder nur gar nicht vorstellen. Man kann sich vorstellen, nicht zu laufen und im Rollstuhl zu sitzen. Man kann die Augen schließen und sich vorstellen, blind zu sein. Man kann humpeln oder versuchen, sich nur mit einem Arm ein Brot zu schmieren. Man kann sich vorstellen, zu leise zu hören. Aber man kann sich nicht wirklich vorstellen wie es ist, schlecht zu verstehen. Man hört bestimmte Frequenzen nicht. Ich habe zum Beispiel keine Konsonanten gehört. Die Sprachqualität ist immer schlecht. Man muss sich unglaublich konzentrieren, um selbst einfache Gespräche zu führen. Ich verbildliche hörgeschädigtes Hören gerne so:

Stell Dir vor, Du sitzt an einem Tisch mit 10 Personen, die sich in einer Sprache verständigen, die Du nur ein kleines bißchen beherrschst. Von draußen dringt lauter Baustellenlärm an Dein Ohr. Du hast 24 Stunden nicht geschlafen und Dein Konzentrationsvermögen ist erschöpft. Deine Ohren sind verstopft. 

Das ist in etwa mein Alltag mit Hörgeräten. Mit Cochlea-Implantat würde ich es am Tag 21 so beschreiben:

 Stell Dir vor, Du sitzt an einem Tisch mit 10 Personen, die sich in Deiner Muttersprache verständigen, aber etwas leise sprechen. Draußen ist ein bißchen Verkehrslärm. Du hast einen normalen Arbeitstag hinter Dir und muss Dich etwas konzentrieren.

Der heutige Vormittag ist ausgefüllt mit Vorbereitungen für meine Geburtstags- und Implantationsparty am Samstag. Am Nachmittag fahre ich nach Hamburg, um bei einem alten Arbeitskollegen einen höhenverstellbaren Schreibtisch abzuholen, den ich wegen des Umzugs seines Arbeitgebers sehr günstig erwerben kann. Junior I kommt zur Unterstützung mit und wir haben eine tolle Unterhaltung im Auto, in der es mal wieder um Musik geht: Wir gehen gemeinsam meine Playlist für die Party durch. Und um den Blödsinn, den ich in meiner Jugendzeit und auch danach angestellt habe. Ein unerschöpfliches Thema…

Bei der Abholung freue ich mich sehr, meinen ehemaligen Kollegen wiederzusehen und treffe noch einen weiteren alten Arbeitskollegen, mit dem ich Anfang der 00er Jahre zusammen bei meinem ersten Arbeitgeber angestellt war. Ich verstehe beide deutlich besser als mit Hörgeräten und genieße ein kurzes, berufliches Smalltalk. Dann geht es zurück nach Hause.

Am Abend kommt ein Arbeitskollege von SAP zu Besuch, der mit seiner Familie auf Urlaubsrückreise von Skandinavien nach Baden-Württemberg ist, ebenfalls sehr schlecht hört und in dieser Woche auch ein Cochlea-Implantat bekommt. Auch seine Frau trägt auf einem Ohr ein CI und auf dem anderen ein Hörgerät. Es tut immer gut, sich mit anderen ‚Betroffenen‘ zu unterhalten und wir verbringen einen wunderbaren Abend und darauf folgenden Morgen und freuen uns sehr auf das nächste Wiedersehen.

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