Tag 47 – Gegensprechanlage

Heute fahre ich das erste Mal seit der Implantation wieder nach Walldorf, in die Firmenzentrale meines Arbeitgebers. Ich mache diese Tour etwa alle 2-3 Wochen; pro Strecke sind 560 Kilometer zu fahren. Montags um 6 geht es los und gegen Mittag bin ich im Office. Meistens fahre ich Donnerstagnachmittag dann wieder nach Hause. Mit der Bahn fahre ich nicht mehr, weil das mehrfache Umsteigen samt Verspätungen schon häufig dazu geführt hat, dass ich über 9 Stunden unterwegs war. Mit dem Auto geht es schneller und es ist auch entspannter – ich kann in Ruhe Musik hören, mache eine schöne Frühstückspause und komme dank der umfangreichen Assistenzsysteme in meinem Firmenwagen relativ entspannt an.

Und: Ich kann mein elektronisches Hören beim Fahren trainieren. Die Motorgeräusche werden vom Soundprozessor gut unterdrückt und die Soundanlage meines Autos hat einen hervorragenden Klang. Also schalte ich das Radio ein – das beste Hörtraining, das man sich vorstellen kann. Verkehrsmeldungen verstehe ich schon sehr gut. Der Aufbau dieser Meldungen ist relativ einfach und immer ähnlich und die häufigen Wiederholungen helfen, auch Dinge zu verstehen, die beim ersten Mal nicht sofort angekommen sind. Ähnlich ist es bei Nachrichten: Auch hier gibt es alle 30 Minuten eine Wiederholung mit leichten Änderungen. In beiden Fällen wird außerdem sehr deutlich gesprochen. Zwischendurch kann man sich mit Musik entspannen, was sehr wichtig ist – denn 5 Stunden Hörtraining am Morgen wäre etwas zu viel.

Die letzte halbe Stunde vor meiner Ankunft in Walldorf schalte ich das Radio allerdings aus. Denn mein Ohr braucht nach dem insbesondere lauten Musikhören immer etwas Erholung, um für sprachliche Kommunikation fit zu sein. Ich verstehe Sprache direkt nach längerem Musik hören nicht mehr so gut; alles ist etwas leiser. Aber meistens reicht eine halbe Stunde aus, um den Hörnerv wieder zu regenerieren.

In Walldorf angekommen gibt es erst einmal viel Small-Talk zu absolvieren. Ich habe meine Arbeitskollegen seit der Operation ja nicht mehr gesehen undAm frühen Nachmittag steht das erste reale Meeting auf dem Arbeitsplan: Es geht um die Vorstellung einer neuen Arbeitsaufgabe für mich; mit mir sind wir zu viert. Ich verstehe fast alles einwandfrei und kann dann direkt loslegen.

Auch der Check-In im Hotel am späten Abend läuft reibungslos, obwohl ich etwas mit dem Dialekt an der Rezeption kämpfen muss. Ich übernachte gerne in kleinen, Inhabergeführten Hotels. Zwar ist die Ausstattung dort oft nicht so opulent wie in bekannten Hotelketten und das Frühstück bietet keine Auswahl an Frühstücksgerichten aus 5 Kontinenten, aber der Service ist meist besser und es ist alles etwas persönlicher. Schwierig wird es immer, wenn die Rezeption nicht durchgehend belegt ist und ich mit einer Gegensprechanlage kämpfen muss. Denn Gegensprechanlagen sind für hörgeschädigte Personen eine Katastrophe. Die Tonqualität ist oftmals bescheiden und natürlich kann man nicht von den Lippen ablesen, was bei mir bislang immer dazu führte, dass ich rein gar nichts verstanden habe. Stattdessen war es für mich immer ein Erfolg, wenn ich überhaupt gemerkt habe, dass die Gegensprechanlage überhaupt reagiert, weil der Verkehrslärm im Hörgerät dominiert.

Man entwickelt im Lauf der Zeit allerdings Codes, mit denen man Gegensprechanlagen besiegen kann, wenn man nicht weiß, ob der Gesprächspartner Deutsch, Italienisch oder Hmong redet. Privat genutzte Gegensprechanlagen lassen sich meistens durch ein selbstbewußtes „Ich bin’s, mach mal auf“ überlisten. Das klappt häufig. Wenn man erwartet wird, macht der eigenen Name durchaus Sinn: „Hier ist Chris, mal mal bitte auf„. Bei Hotels, deren Rezeption nicht durchgehend besetzt ist, versuche ich meistens mit „Hier ist [Name], ich habe bei Euch ein Zimmer gebucht, kann bitte jemand kommen? Ich kann die Antwort leider nicht verstehen„. Falls nach 15 Minuten niemand auftaucht, funke ich dann die ErstBesteHälfte per Textnachricht an und bitte sie, das Hotel anzurufen. Eher schlechte Erfahrungen habe ich übrigens gemacht mit „Die Pizza ist da, bitte aufmachen„, „Ich mache eine Umfrage zum Thema Geschlechtskrankheiten“ und „Ich möchte gerne mit Dir über Gott reden„.

Weil ich oftmals nicht gehört habe, ob und wann die Gegensprechanlage loslegt, habe ich mich hingekniet, das Ohr an die Gegensprechanlage gehalten und den entsprechenden Code dann wie ein Mantra alle 10 Sekunden wiederholt. Weil ich auch das Summen nicht gehört habe, das signalisiert, wenn die Türöffnung betätigt wird, habe ich dabei dann noch fest gegen die Tür gedrückt. Wenn man sich das ganze bildlich vorstellt, gehört wohl eine gehörige Portion Glück dazu, in knapp 40 Jahren Kampf mit Gegensprechanlagen als Hörgeschädigter noch nie verhaftet oder in die Psychiatrie verfrachtet worden zu sein. Ich habe allerdings auch vor dem Betätigen des Gegensprechanlagenknopfes immer darauf geachtet, dass keine Polizeistreife in der Nähe ist.

Dank Cochlea-Implantat wird das auch in den nächsten 40 Jahren nicht passieren – denn ich höre jetzt, wenn die Anlage loslegt und ich werde auch verstehen, was gesagt wird – vielleicht nicht alles und beim ersten Mal, aber es wird klappen. Ich freue mich ab jetzt sehr auf Einladungen zum Kaffee, wenn Ihr in einem Mehrparteienhaus wohnt und eine Gegensprechanlage habt.

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