Tag 75/12 – Klavier

Ich komme aus einer sehr musikbegeisterten Familie mütterlichseits. Mein Großvater, der schon vor meiner Geburt starb, war Berufsmusiker – Kapellmeister, wie es damals hieß. Sein Sohn, mein Onkel, war ebenfalls Berufsmusiker: Fagottist an der Hamburger Philharmonie. Bei uns zuhause lief sehr viel klassische Musik und ich habe die klassischen Stücke, die auf dem Plattenspieler liefen, noch heute im Ohr. Auch meine Mutter spielte Klavier und brachte mir und auch meiner jüngeren Schwester, die ebenfalls sehr gerne und viel Musik macht, schon im Grundschulalter die ersten Melodien bei. Den Klavierunterricht hielt ich nicht wirklich lange durch: Das Spielen nach Noten war nie wirklich mein Ding. Stattdessen spielte ich lieber nach Gehör und war schon als Kind in der Lage, Melodien und auch Musikstücke nach dem Hören nachzuspielen. Nach der Grundschulzeit kam Posaune hinzu, die ich im evangelischen Blasorchester lernte. Wir spielten dort überwiegend modernere Kirchenlieder und nach den offiziellen Übungsstunden sassen wir oft mit einer kleineren Gruppe zusammen und spielten Märsche, bis die Lippen bluteten. Ich bin beileibe kein Fan von Marschmusik, aber das Spielen machte immer großen Spaß. Im Teenageralter trafen wir uns dann auch oft privat und spielten Jazz zusammen. Auch in der Schule war ich Teil eines großartigen Schulorchesters und einer Big Band. Unvergessen geblieben sind eine Aufführung von Verdis Triumphmarsch aus AIDA, meine erste Konzertaufführung, und ein Weihnachtskonzert, in dem wir das Halleluja von Händel in einer großen Kirche in Münster aufführten. Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich an diesen beeindruckenden Moment denke. Auch die Big Band-Auftritte machten enormen Spaß – wir spielten vor allem Stücke von Glenn Miller, den ich heute noch sehr gerne mag, wenn auch selten höre.

Auch nach meinem Schulwechsel in die Oberstufe einer Schule für Hörgeschädigte machte ich weiter Musik. Ich war auch dort Teil einer Schulband mit Lehrern und Schülern. Wir spielten vor allem bekannte Evergreens aus den 60er und 70er Jahren. Im Internat hatten wir ein Klavier im Aufenthaltsraum und saß dort oft am Abend und verarbeitete Liebeskummer oder anderen Frust mit dem Spielen von Popballaden. Nach dem Abitur stellte ich das Musik machen ein. Mein Ohren waren zu schlecht, um weiter Posaune zu spielen – ein Instrument, bei dem ein sehr gutes Gehör enorm wichtig ist. Auch das Klavierspielen machte nicht mehr wirklich Spaß, weil ich nicht mehr hören konnte, wenn ich falsch spiele. Dennoch hatten wir immer ein Klavier im Haus, an dem Junior I ebenso wie ich schon sehr früh seine ersten musikalischen Schritte machte. Das musikalische Talent war ihm schon früh anzumerken und etwa ab dem 8. Lebensjahr nahm er dann Klavierunterricht und hatte schon kurz darauf seine ersten Auftritte im Rahmen des alljährlichen Musikschulkonzertes, bei dem er selbstgeschriebene Songs präsentierte – komplett ohne Lampenfieber. Ebenso wie ich spielt Junior I ungern nach Noten, dafür aber außergewöhnlich gut nach Gehör. Auch für ihn ist das Klavier ein Ventil, wenn er Frust hat oder das WLAN-Kontigent für die Spielkonsole aufgebraucht ist. Neben dem Klavier kam vor zwei Jahren auch noch E-Gitarre hinzu und auch hier zeigte sich schnell ein großes Talent, das er als Mitglied einer Schulband einsetzen konnte. Nebenbei spielt er auch noch Schlagzeug, allerdings ohne Unterricht. Hier schaut er sich die Dinge ab, die ich oder sein jüngerer Bruder im Unterricht gelernt haben und setzt es oftmals besser um als ich selbst.

Als Elternteil macht einen so etwas natürlich enorm stolz. Und es ist schön zu sehen, dass das musikalische Talent der Familie auf ihn übergegangen ist. So richtig hören konnte ich jedoch nie wirklich, was er spielt. Ich war immer ein kleines bißchen traurig darüber, dass er relativ wenig klassische Stücke im Repertoire hat und fast ausschließlich Pop und Rock spielt und hatte die Befürchtung, dass die technische Fertigkeit darunter leiden wird. Heute allerdings habe ich ihm zum ersten Mal mit zwei Implantaten, von denen auch das linke immer besser funktioniert, richtig beim Spielen zugehört. Und ich war beeindruckt und ergriffen, weil das, was er dort auf die Tasten zauberte, weit über das hinausging, was ich erwartet hatte. Dass ich so etwas jetzt wahrnehmen kann, ist vielleicht eines der schönsten Geschenke, die mir die Hörimplantate machen können. Ich bemerke jeden Tag und besonders in solchen Momenten, wie viel mir in den letzten Jahren beim Hören entgangen ist. Auch wenn ich es immer toll fand, wie gerne und motiviert Junior I am Klavier gespielt hat: Es richtig hören zu können ist schon eine andere Hausnummer. Ich freue mich sehr auf das, was er in Zukunft noch alles am Klavier und an der E-Gitarre machen wird.

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