Tag 184/122 – Kohltour

Ich bin zur alljährlich stattfindenden Kohltour der Dorffeuerwehr eingeladen. Kohltouren sind in Norddeutschland sehr beliebt. Man trifft sich früh am Nachmittag und zieht dann den Nachmittag über mit einem Bollerwagen voller überwiegend alkoholischer Getränke gemütlich zu einem Restaurant, in dem dann Grünkohl mit Pinkel gegessen wird. Auf dem Weg wird viel geklönt, es werden Spiele gemacht – und es wird viel getrunken. Man ist meistens in einer reinen Männer- oder als Frau in einer reinen Frauengruppe mit 10 oder mehr Personen unterwegs; aber auch gemischt geschlechtliche Kohltouren werden immer beliebter.

Obwohl ich schon seit 2004 im ländlichen Norden lebe, habe ich bislang selten daran teilgenommen – vor allem deshalb, weil die Kommunikation für mich auf so einer Veranstaltung sehr schwierig ist. Unterhaltungen beim Spazierengehen sind für stark Hörgeschädigte eine totale Herausforderung, weil man dem Gesprächspartner auf die Lippen schauen muss, um ihn zu verstehen. Das ist beim Laufen nicht so einfach. Einfach nebeneinander gehen und sich unterhalten – das konnte ich noch nie.

Dass der größte Teil einer Kohltourtruppe spätestens nach 2 Stunden anfängt zu lallen, macht die Kommunikation für mich ebenfalls nicht einfacher. Betrunkene zu verstehen ist für hörgeschädigte Personen sehr schwierig, weil die Aussprache undeutlicher wird. Beim Lallen verändert sich das Mundbild und Konsonanten gehen komplett verloren. Dazu kommt, dass auch der Inhalt des Gesagten bei zunehmendem Promillepegel immer schwerer zu erraten wird, weil die Logik flöten geht. Die einzige Lösung ist hier, sich selbst ordentlich einen einzuschenken – dann ist es einem auch egal, ob man alles versteht oder etwas komplett falsch versteht. Das merkt der Gesprächspartner dann sowieso nicht mehr.

Dazu kommt, dass die Gespräche häufig quer durch die Gruppe laufen. Und auch bei den Spielen ist es wichtig, dass man die Regeln versteht und dem Gesagten folgen kann. Ich musste mir bislang immer alles drei mal von jemandem erklären lassen und es hat einfach wenig Spaß gemacht, sondern war mit viel Frustration und Anstrengung verbunden.

Obwohl ich schon seit über 10 Jahren in unserem kleinen Dorf mit etwa 500 Einwohnern lebe, hier viele Freunde gewonnen habe und alles andere als isoliert bin, habe dennoch recht wenig Kontakt zu der restlichen Dorfbevölkerung gehabt. Man kennt sich, man sieht sich auf Dorffesten, man sagt ‚Hallo‘ oder nickt sich zu – aber mehr auch nicht. Alles darüber hinaus ist sehr anstrengend – sowohl für mich, als auch für die Gesprächspartner, die oft nicht mehr wissen was sie machen sollen, wenn ich auch bei der zweiten Wiederholung nicht verstanden habe, was gesagt worden ist.

Das ist heute komplett anders. Mit ziemlich jedem aus der ca. 30-köpfigen Kohltourtruppe komme ich heute ins Gespräch. Ich werde oft wegen des Zeitungsartikels in der Kreiszeitung angesprochen und lerne heute viele Leute näher kennen, die ich schon seit Jahren vom Sehen kenne. Und: Ich kann mich auch endlich mit Vollbartträgern unterhalten. Das ging früher gar nicht, weil man hier die Lippen nicht sieht und deshalb auch nicht vom Mund ablesen kann.

Der Nachmittag vergeht wie im Flug mit vielen interessanten und netten Gesprächen. Ich verstehe fast alles und kann auch bei den Spielen völlig problemlos mitmachen (wir machen einen Team-Dartwettbewerb im Wald, was mit ordentlich Alkohol im Blut ziemlich lustig ist). Auch das abschließende Grünkohlessen im Restaurant ist wirklich schön und ich erfahre viel Dorfkolorit und lerne viele Menschen, mit denen ich schon lange im Dorf zusammen lebe, das erste mal richtig kennen.

Das Leben ist so viel einfacher, wenn man seine Mitmenschen gut verstehen kann. Gesellschaftliches Zusammensein ist für mich nicht mehr anstrengend und keine Herausforderung mehr, sondern ich kann es einfach genießen. Vor allem haben viele Menschen keine Hemmungen mehr, mich anzusprechen, weil sie nicht wissen, WIE sie mit mir sprechen sollen. Man darf nie vergessen, dass es nicht nur für einen Hörgeschädigten selber schwierig ist, zu kommunizieren, sondern dass oftmals auch die Gesprächspartner verunsichert sind und nicht wissen, was verstanden wird, wie sie sprechen sollen und was sie machen sollen, wenn die Kommunikation nicht funktioniert.

Aber das ist jetzt Geschichte. Ich bin mittendrin und nicht mehr länger nur dabei.

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