Tag 17 – Copilot

Nach einer kurzen Nachtruhe ging es heute zurück nach Hause. Auf dem Heimweg brachte ich noch eine Freundin meines Gastgebers nach Hause, die auf meiner Rückreiseroute wohnt  – und wir konnten uns fast die ganze Strecke gut unterhalten.

Unterhaltungen im Auto sind für mich und auch viele andere hörgeschädigte Menschen eine echte Herausforderung – egal ob man selber fährt oder Beifahrer ist. Einerseits wegen der Umgebungsgeräusche, die Kommunikation schwierig machen, weil Hörgeräte nicht halbwegs so gut in der Lage sind wie das menschliche Ohr, all das herunter zu pegeln, was  man nicht hören will. Andererseits deshalb, weil ich von den Lippen ablesen muss. Das bedeutet, dass man als Fahrer den Beifahrer anschauen muss, wenn er spricht. Für die Verkehrssicherheit ist dies suboptimal – und damit auch für den Blutdruck der Person auf dem Beifahrersitz, die natürlich nervös wird, wenn der Fahrer nicht nach vorne schaut. Und dann selber nach vorne schaut, weil die meisten Menschen gerne kurz vorher wissen möchten, wann und wie sie sterben. Der Fahrer versteht in diesem Moment noch weniger, weil das Mundbild nicht frontal sichtbar ist und so wird die gesamte Kommunikation zu einem echten Nervenkitzel.

Wenn die Rollen vertauscht sind, ist es etwas einfacher, aber das Problem besteht dann umgekehrt: Die fahrende Person weiß, dass sie mich als Beifahrer anschauen muss, damit ich verstehe. Ich werde natürlich auch nervös, wenn die Person am Lenkrad nicht nach vorne schaut, weil die meisten Menschen auch nicht gewöhnt sind, sich mit hörgeschädigten Personen im Fahrzeug zu unterhalten. Und auch ich möchte ganz gern wissen, wann der Airbag auslöst – und schaue deshalb selbst nach vorne und verstehe nichts mehr. Das Ganze ist ein bißchen wie dieses Spiel ‚Wer traut sich zuerst, wegzugucken‘. Entspanntes Unterhalten ist dabei nur schwer möglich.

Meine Freunde kennen diese Situation und sind es gewöhnt, Unterhaltungen im Auto auf ein Minimum zu reduzieren. Das ist sehr ungewohnt. Vor allem die Anhalter und Mitfahrer, die ich in den 90er Jahren oft über Mitfahrzentralen mitgenommen habe, waren häufig verunsichert, weil ich einfach nur gefahren bin und kein Interesse an Small Talk zeigte. Man denkt in so einer Situation als Anhalter vermutlich an amerikanische Horrorfilme, in denen Serienmörder und Psychopathen Anhalter einsammeln und dann wortlos in ein leer stehendes Gebäude chauffieren. Ich habe es nach Möglichkeit vermieden, die Leute durch irres Grinsen oder Gekicher noch mehr zu verunsichern und darüber aufgeklärt, dass wir uns entweder unterhalten oder dass sie sicher ans Ziel kommen. Die meisten fanden die letzte Option attraktiver. Die wenigen Fälle, die einfach nicht in der Lage sind, in Gesellschaft einfach mal 2 Stunden den Rand zu halten, wurden spätestens dann still, nachdem ich sie (natürlich auf freier Autobahnstrecke) etwa 10 Sekunden intensiv angeschaute und dabei beschleunigte. Im Angesicht des Todes werden auch notorische Dauerredner auf einmal ganz still.

Um meine Leser nicht nervös zu machen: Ich habe in 32 Jahren Autofahren mit Fahrleistungen von bis zu 50.000 km pro Jahr noch keinen ernsten Unfall gehabt – lediglich zwei Motorradunfälle, die nichts mit einem beeinträchtigten Gehör, zu tun hatten. Denn im Zweifelsfall war mir mein Leben und das meiner Passagiere immer wichtiger als zu verstehen, warum Freundin 1 zu Freundin 2 gesagt hat, dass Freundin 3 Freundin 4 nicht mehr mag, weil Freundin 5 gesehen hat, dass Freundin 3 zusammen mit Freundin 6 über Freundin 5 gelästert hat.

Und: wenn ein Sinnesorgan dauerhaft beeinträchtigt ist und seine Aufgaben nicht mehr ordentlich wahrnehmen kann, übernehmen andere Sinnesorgane einen Teil dieser Arbeit. In meinem Fall heißt das, dass meine Augen etwas leistungsfähiger sind. Ich schaue zwar nicht schärfer oder weiter und kann leider auch nicht durch Kleidung hindurchschauen, aber ich habe ein etwas breiteres Blickfeld als die meisten nicht hörgeschädigten Menschen und nehme deshalb im Verkehr schneller wahr, wenn jemand von rechts oder links kommt. Ich hatte deshalb auch lange die Auflage im Führerschein, dass ich nur Fahrzeuge mit rechtem Außenspiegel fahren darf, um meine Beeinträchtigung auszugleichen. Denn bis in die 90er Jahre waren rechte Außenspiegel bei vielen Fahrzeugen tatsächlich eine Sonderausstattung.

Interessanterweise ist auch mein Geruchsorgan sehr sensitiv. Ich wache schnell auf, wenn Rauch oder Essengerüche ins Schlafzimmer ziehen und habe ein außerordentliches olfaktorisches Gedächnis. Das hilft im Verkehr aber nicht wirklich – wenn ich den Brandgeruch wahrnehme, ist es zum Bremsen vermutlich zu spät.

Jedenfalls: Der Blutdruck meiner Beifahrerin bleibt während der etwa einstündigen Fahrt im grünen Bereich. Wir können uns gut unterhalten und ich muss zwar immer noch ab und zu auf ihren Mund schauen oder das Gespräch pausieren lassen, wenn der Verkehr meine volle Aufmerksamkeit erfordert, aber im Vergleich zu meiner Zeit mit Hörgeräten ist das deutlich komfortabler. Und ich freue mich auf den Tag, an dem ich die Blicke zur Seite gar nicht mehr brauche.

Nachdem mein Fahrgast zu Hause abgeliefert ist, besuche ich noch kurz meine Mutter, die in der Nähe wohnt und sich wahnsinnig darüber freut, dass ihr Sohnemann wieder besser hören kann. Für Eltern ist eine Krankheit oder Behinderung eines Kindes meistens viel schlimmer als für einen selbst. Ich hatte während meiner Pubertät natürlich schwer mit dem immer schlechter werdenden Gehör zu kämpfen und es gab immer wieder Momente, wo ich meine Ohren verflucht habe. Aber man muss irgendwann lernen, mit seinem Handicap umzugehen und nicht mehr ständig darüber nachzudenken. Es ist ein Teil eines selbst und man muss es akzeptieren anstatt dagegen zu kämpfen – sonst geht man unter.

Für viele Eltern ist es viel schwieriger damit klarzukommen, wenn das eigene Kind eine Krankheit oder Behinderung hat – denn man möchte natürlich, dass es den Menschen besonders gut geht, die man am meisten liebt, dass sie ‚gesund‘ sind und wenig Probleme haben. Meine Eltern haben lange gegen meine Schwerhörigkeit gekämpft und ich bin jahrelang auf einer medizinischen Odyssee unterwegs gewesen: HNO-Ärzte, Neurologen, Psychologen, Homöopathen, Heilpraktiker, Wunderheiler: Es wurde alles versucht und nichts unversucht gelassen. Jeder mögliche Strohhalm wurde ergriffen, um gegen das schlechte Hören zu kämpfen. Ich hatte irgendwann genug davon, weil es mir wichtiger war, mit der Hörbeeinträchtigung klar zu kommen, als erfolglos dagegen zu kämpfen. Und habe dann nicht mehr auf meine Copiloten gehört, sondern auf mich selbst.

Letztendlich kann man auch mit schlechtem oder gar keinem Gehör ein tolles und erfülltes Leben führen – oder ohne Augen oder Beine oder mit anderen Krankheiten oder Behinderungen. Wichtig ist, dass man sich selbst akzeptiert – mit allen Beeinträchtigungen. Und versucht, das Beste draus zu machen. Ich wäre ohne meine Hörschädigung vermutlich ein ganz anderer Mensch geworden; sie ist ein wichtiger Teil von mir, der mich geprägt hat und durch den ich viel gelernt habe. Und das ist gut so.

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