Monat: Juli 2018

Tag -3 – Entscheidung

Ich habe relativ gut geschlafen und muss bereits um 7 Uhr zum MRT, um ein Farbfoto meines Kopfinneren anfertigen zu lassen. Hoffentlich finden sie um diese frühe Uhrzeit überhaupt etwas…

Anschließend wird gefrühstückt und um 9 Uhr steht ein pädagogisches Gespräch im Deutschen HörZentrum Hannover auf dem Plan, das in einem Gebäude neben dem Krankenhaus untergebracht ist. Dieses Gespräch dient dazu, den Patienten über den Therapie- und Rehabilitationsverlauf nach der Erst- oder Frühanpassung aufzuklären und die Erwartungen auf ein realistisches Maß zu stutzen.

Der Pädagoge, der mich berät, ist sehr sympathisch und gut zu verstehen. Das Gespräch ist sehr aufschlußreich und mir wird gesagt, dass ich mit mehreren Monaten rechnen muss, bis ich mit dem Implantat gut verstehen und Stimmen unterscheiden kann. Mein persönliches Ziel ist es, bis zum Ende des Jahres so „gut“ zu verstehen wie mit dem Hörgerät.

Hörbiographien von hörgeschädigten Menschen sind individuell und können sehr unterschiedlich sein. Der Erfolg eines Cochlea-Implantats hängt von vielen Faktoren ab: Wie lange man nichts gehört hat, welche Frequenzen man wie lange nicht gehört hat, wie leistungsfähig und flexibel das Gehirn ist, wie gut die Operation selbst verläuft, wie motiviert der Patient ist und welche Hörgeräteversorgung bestand. Pauschale Aussagen, wie gut man mit einem Cochlea-Implantat hören wird, wann man Stimmen verstehen und unterscheiden oder Musik hören kann, gibt es nicht. Was beim einen gut funktioniert, kann beim anderen schlechter oder gar nicht funktionieren. Es ist in gewissem Maße eine Reise ins Ungewisse. In den weitaus meisten Fällen leistet ein Cochlea-Implantat mehr als ein Hörgerät und verbessert die Hörsituation spürbar. Aber auch dafür gibt es keine Garantie.

Nach diesem Gespräch steht direkt ein Beratungsgespräch beim Audiologen an, der das elektronische Ohr später einstellen wird. Mir werden alle verschiedenen CI-Lösungen vorgestellt, die in Hannover implantiert werden:

  • Cochlear – ein australisches Unternehmen und der größte und bekannteste CI-Hersteller. Diese Geräte bieten aktuell die beste Konnektivität.
  • Advanced Bionics – eine Firma aus Kalifornien, die eng mit Phonak, einem der bekanntesten Hörgerätehersteller zusammenarbeitet und deren Soundprozessoren direkt mit dem Hörgerät auf der anderen Ohrseite zusammenarbeiten können.
  • Med-El, das zweitgrößte Cochlea-Implantat-Unternehmen nach Cochlear, ist in Österreich beheimatet.
  • Oticon – ist relativ neu am CI-Markt und stammt aus Dänemark.

Alle Lösungen bieten laut Aussage des Audiologen ein gutes Sprachverständnis, dennoch gibt es Unterschiede in der Haptik und dem Design, der Art und Weise der Signalverarbeitung und bei der Konnektivität, um beispielsweise ein Smartphone direkt mit dem Soundprozessor zu verbinden. Eine hervorragende Übersicht der technischen Features der verschiedenen Cochlea-Implantate und der zugehörigen Soundprozessoren bietet das Blog Weakears – neben vielen weiteren interessanten Artikeln rund um das Thema Cochlea-Implantat.

Meine Favoriten sind Cochlear – wegen der hervorragenden Konnektivität – und Advanced Bionics wegen der Möglichkeit einer Synchronisation mit dem Hörgerät auf dem nicht implantierten Ohr. Bei der Anprobe spricht mich das Gerät von Med-El allerdings am meisten an – das Design gefällt mir gut, die Haptik ist angenehm und vor allem ist die Oberfläche der Spule, die am Kopf auf dem Implantat sitzt, glatt wie ein Kinderpopo, während Cochlear und Advanced Bionics hier eine Oberfläche mit Plastiknippeln verwenden, bei der ich als Glatzenträger Angst habe, dass sie meine empfindliche Haut zu sehr reizt.

Das Beratungsgespräch ist sehr aufschlussreich, ich bekomme alle Fragen beantwortet und werde vor allem neutral beraten. Eine medizinische Empfehlung gibt es bei mir nicht, es hängt jetzt also von mir ab. Und ich bin komplett überfordert. Die Entscheidung muss rasch fallen, wenn ich eine Frühanpassung bereits 2-3 Tage nach der OP haben möchte und der Soundprozessor heute bestellt werden muss. Diese Frühanpassung wird erst seit kurzem angeboten, wenn die Kopfschwellung nach der OP weit genug zurückgegangen ist und soll den Hörerfolg beschleunigen, weil sich der Träger oder die Trägerin bei der Erstanpassung bereits an das Gerät gewöhnt hat.

Aus technischer Sicht finde ich Advanced Bionics am besten, allerdings ist das Gerät sehr groß und die Synchronisation mit dem Hörgerät ist eher zweitrangig, weil ich mittelfristig zwei Implantate einplane. Cochlear sitzt schlecht auf dem Ohr und die raue Oberfläche der Spule bereitet mir ein schlechtes Bauchgefühl. Vom Sprachverständnis her sind alle angebotenen Geräte gut; Med-El kann wegen der längeren Elektrode Vorteile bei Musik bieten. Dafür gibt es allerdings keine Garantie. Ich entscheide mich letztendlich für Med-El in weiß-grünem Werder Bremen-Outfit. In diesem Video sieht man gut, wie es funktioniert.

Die nächste Station ist ein Hörtest, bei dem die Hörleitfähigkeit der Hörnerven gemessen wird. Dazu wird eine Nadel durch das örtlich betäubte Trommelfell geführt. Das Behandlungszimmer sieht ein bißchen aus wie das Kabinett des Dr. Caligari oder diese Hinterhof-OP-Zimmer in Science-Fiction-Filmen, bei denen die Protagonisten von meistens betrunkenen Nerds in verschmutzten Kitteln implantiert werden. Auch das Gefühl, eine Nadel ins Ohr gestochen zu bekommen, ist nicht gerade Wellness-kompatibel – aber erträglich. Bei diesem Hörtest werden Töne direkt ins Innenohr geleitet. Das hört sich merkwürdig an und ist ein bißchen unangenehm. Ich habe Angst, dass das spätere Hören mit dem Cochlea-Implantat mit diesem Eindruck vergleichbar ist. Dies ist allerdings nicht der Fall.

Nach dem Mittagessen, das gar nicht mal so schlecht ist, geht es zum Anästhesie-Informationsgespräch. Da ich wegen der Mandel-Operation in meiner Kindheit panische Angst vor der OP-Situation habe, wird entschieden, mir eine volle Ladung „Scheißegal-Pillen“ zu verabreichen. Direkt im Anschluss geht es dann zum Oberarzt, Herrn Dr. Nils Prenzler, der deutlich jünger aussieht als ich erwartet habe und mir meine Frage nicht übelnimmt, wie viele CI-Operationen er denn schon durchgeführt hat. Für mich ist Vertrauen in dieser Situation sehr wichtig – und es ist schnell vorhanden.

Bei der Platzierung der Spule am Kopf darf ich mitentscheiden – mir ist wichtig, dass ich als Vollglatzenträger auch nach der OP noch Basecaps tragen kann. Noch nicht entscheiden kann ich mich dafür, welche Seite implantiert werden soll. Das rechte Ohr hört eigentlich etwas schlechter; allerdings war es beim morgigen Hörtest genau andersherum. Vielleicht hat sich mein Ohr besonders ansgestrengt, um die OP zu umgehen? Die rechte Seite ist allerdings meine Schokoladenseite und mich würde das Implantat dort deutlich mehr stören als links. Ich lasse die Entscheidung erst einmal offen und habe bis zum nächsten Morgen Zeit, darüber nachzudenken.

Damit ist dann auch der Rest des Tages ausgefüllt. Ich nehme abwechselnd beide Hörgeräte heraus und teste zusammen mit meiner ErstBestenHälfte, welche Seite besser versteht. Nach langem Überlegen entscheide ich mich dann für rechts, weil ich mit der linken Seite besser verstehe. Zum Abendessen besorgt die ErstBesteHälfte etwas Leckers vom Chinesen und zwei Dosen Bier, dann wird noch ein bisschen gelesen, der OP-Kittel anprobiert und ich bin nach dem langen Tag so k.o., dass ich schnell einschlafe. Morgen ist es dann soweit.

Tag -4 – Einweisung und Voruntersuchungen

Heute früh geht es ins Krankenhaus – zur Medizinischen Hochschule Hannover. Die Anmeldung läuft problemlos, ich muss gefühlte 100 Dokumente unterzeichnen und bekomme ein Patientenband und eine Akte, die ich dann von Voruntersuchung zu Voruntersuchung mitnehmen muss. Die Empfangsdame ist sehr nett und hilfsbereit und nimmt mir ein wenig von meiner Nervosität.

Zuerst wird jede Menge Blut abgenommen und ein Zugang gelegt, der mich in den nächsten Tagen mit Antibiotika, Cortison und Narkotika versorgen wird. Anschließend steht ein erneuter Hörtest auf dem Programm, der erwartungsgemäß schlecht ausfällt. Erstaunlicherweise ist mein rechtes Ohr heute etwas besser als das Linke – normalerweise ist es anders herum.

Dann geht es zum Gleichgewichtstest. Dieser wird gemacht, damit ein Vergleich des Gleichgewichtssinnes vor und nach der Operation möglich ist, falls es nach der Operation Schwierigkeiten mit der Balance gibt. Diese Nebenwirkung tritt gelegentlich auf und ist eine der OP-Risiken, über die ich später noch detailliert aufgeklärt werde. Neben weiteren wie Gesichtslähmung, Geschmacksveränderungen oder Depressionen wenn man bemerkt, dass in Meetings zu 90% überflüssiges Zeug geredet wird. Beim Gleichgewichtstest wird warmes Wasser in das Ohr gespült, während die Augen bedeckt sind. Das ist schön, aber kann auch schwindelig machen. Anschließend muss ich noch einen Balance-Test absolvieren, bei dem meine Füße auf einer beweglichen Plattform stehen und ich auf eine ebenfalls bewegliche Wand schaue. Ein bißchen wie auf dem Jahrmarkt. Aber kostet nichts.

Ein Gespräch wegen des morgen stattfindenden MRTs habe ich auch noch und muss auch hier ein paar Unterschriften leisten. Dann werde ich auf die Station geführt. Ich liege in der Mitte eines 6-Bett-Zimmers und ärgere mich, dass ich keine private Zusatzversicherung habe. Später wird sich aber zeigen, dass das eigentlich ganz lustig sein kann – wenn man nette Zimmergenossen hat, was bei mir der Fall zu sein scheint.

Abends kann ich mir eine Currywurst mit Pommes aus dem Krankenhausimbiss nicht verkneifen und gehe recht früh schlafen. Morgen muss die Entscheidung fällen, welches Cochlea-Implantat ich haben möchte.

 

 

Vom Jungen, der nicht mehr hören konnte

Der Junge, der am Anfang dieser Geschichte sehr gut hören konnte, verbrachte die ersten vier Jahre seines Lebens im Paradies. Er war das erste Kind eines gut situierten Elternpaars, das ein sorgenfreies Leben in einem westfälischen Dorf führte und sich sehr auf die Ankunft des Jungen gefreut hatte. Sein Gehör funktionierte einwandfrei und es gab weder Sorgen noch Streit, weder böse Worte noch dunkle Wolken am Himmel. Zu Beginn des fünften Lebensjahres brach dann ein Unwetter über das kleine Paradies herein.

In das Leben des Jungen, der nicht mehr hören konnte, traten nicht nur eine Schwester, sondern drei ältere Halbgeschwister aus der ersten Ehe seines Vaters ein. Die Halbgeschwister waren davon genauso wenig begeistert wie der Junge selbst und seine Mutter. Der Vater war allerdings der Meinung, dass das Paradies, in dem der Junge, der nicht hören konnte, aufwuchs, ein besserer Ort dafür sei, seine ersten drei Kinder aufzuziehen. Und jeglicher Widerstand gegen diesen Plan wurde mit körperlicher und verbaler Gewalt durchgesetzt.

Der Junge, der bis zu diesem Zeitpunkt nur Dinge gehört hatte, die man gerne hört, lernte nun andere Töne kennen. Das Gebrüll eines Vaters, der auf einmal eine ganz andere Seite seines Wesens zeigte als das, was der Junge kannte. Das Geschrei einer Halbschwester, die vor seinen Augen geschlagen wird. Das Flitschen eines Gürtels, der aus der Hose gezogen wird und sein Klatschen auf nackter Haut. Wimmern aus dem Keller. Der Junge, der dies nicht hören wollte, saß in der Ecke und hielt sich die Ohren zu. Und wurde krank.

Husten. Schnupfen. Röteln. Masern. Mumps. Halsweh. Aber der Junge hörte immer noch gut. Zwei Jahre später dann das Entfernen der Mandeln und Polypen, die vom Hausarzt als Hauptverursacher für die Anfälligkeit des Jungen ausgemacht wurden. Der Eingriff verlief nicht wie geplant, sondern es gab Komplikationen. Der Junge, der eigentlich nur nicht mehr hören wollte, lag lange im Krankenhaus. Und erholte sich nur langsam. Bei der Nachuntersuchung wurde eine leichte Innenohrschwerhörigkeit festgestellt. Die Ärzte sagten, das sei kein Grund zur Sorge. Das gibt sich schon wieder. Vier Jahre später war aus dem Jungen, der sehr gut hören konnte, ein Junge geworden, der fast gar nichts mehr hörte.

Die Eltern gingen mit dem Jungen, der nicht mehr hören konnte, zum Hörgeräteakustiker. Und dann auf eine medizinische Odyssee. HNO-Experten. Neurologen. Psychologen. Chiropraktiker. Heilpraktiker. Homöopathen. Wunderheiler. Doch der Junge hörte immer weniger. Und gewöhnte sich daran. Er wechselte auf eine Sonderschule für Hörgeschädigte, machte die mittlere Reife, Abitur und studierte anschließend Kommunikationswissenschaft. Er kaufte sich einen Computer, lernte das Internet kennen und begann nach seinem Studium Benutzeroberflächen für Websites und Software zu entwerfen. Er heiratete eine nette Frau, die hören konnte, bekam zwei Kinder und arbeitete viele Jahre erfolgreich als Angestellter und auch Freiberufler. Dies war möglich, weil der Junge, der nicht mehr hören konnte, sein Gehör langsam verlor und deshalb außergewöhnlich gut von den Lippen ablesen konnte.

Dennoch war der Junge, der nicht mehr hören konnte, nicht zufrieden. Ihm fehlte die Musik. Das Unterhalten bei Kerzenlicht im Dunkeln. Das Verstehen von Witzen in Gesellschaft. Das Mit-Dabei-Sein statt nur dabei zu sitzen. Das Verstehen von Englisch und Französisch. Das Telefonieren. Die Möglichkeit, sich in Meetings Gehör zu verschaffen und mitzudiskutieren. Das politische Engagement. Gespräche, ohne sich dabei voll konzentrieren zu müssen. Radio hören. Kino ohne Untertitel. Konferenzen, Kabarett und Kleinkunst. Empfehlungen im Restaurant. Lautsprecherdurchsagen. Klavierspielen. Entspannt zuhören zu können.

Der Junge, der nicht mehr hören konnte, überlegte lange, ob ein Cochlea-Implantat eine Lösung sein könnte. Er hatte große Angst vor diesem Eingriff, weil er seit der Mandeloperation panische Angst bekam, wenn er in einen Operationssaal geschoben wurde. Und weil er sich nicht ganz sicher war, ob seine Ohren mit Hilfe eines Cochlea-Implantats – auch CI genannt –  wirklich wieder hören können.

Die vielen positiven Erfahrungsberichte von CI-Trägern einerseits und eine große Hörmüdigkeit andererseits gaben dem Jungen, der nicht mehr hören konnte, schließlich genug Mut, um sich an einen Experten für Cochlea-Implantate zu wenden. Am 30. Juli begab sich der Junge, der nicht mehr hören konnte, in die Obhut der Medizinischen Hochschule Hannover. Mit diesem Tag beginnt auch dieser Blog.