Tag 11 – Wireless

Heute früh wurden die Fäden der Operationsnarbe gezogen. Das tat nur ein kleines bisschen weh und die Wunde heilt ausgezeichnet. Am Mittwoch darf ich erstmals wieder komplett duschen und meinen Kopf rasieren. Darauf freue ich mich sehr. Und noch etwas anderes ist erfreulich:

Das Aufgerufen werden in Wartezimmern ist für hörgeschädigte Menschen eine unangenehme Situation. Es gibt im grob zusammengefasst drei Szenarien:

  1. Das Business Class-Szenario: Das Praxispersonal kommt ins Wartezimmer und ruft mich persönlich auf.
  2. Das Economic Class-Szenario: Ich werde erst aufgerufen, höre es nicht, und irgendwann steht eine Arzthelferin armwedelnd und hyperventilierend vor mir.
  3. Das Ryanair-Szenario: Ich werde aufgerufen, höre es nicht, aber merke irgendwann, dass alle wartenden Patienten sich umsehen und niemand aufsteht. Dann marschiere ich los und frage, ob ich aufgerufen worden bin.

Mit dem Cochlea-Implantat kommt eine neue Variante hinzu: Ich höre durch die geschlossene Tür des Arztzimmers, dass mein HNO-Arzt mich aufruft. Zwar bin ich erst so überrascht, dass trotzdem ein Husch-Husch-Signal vom Tresen kommt, aber ich habe es tatsächlich gehört und es klang wie mein Name. Das ist großartig.

Am Vormittag übe ich ein wenig mit meinen Hörtraining-Apps. Was leider noch nicht klappt, ist das Verstehen von englischen Sätzen. In der Übung geht es darum, nach dem Anhören einer kurzen Geschichte auf Englisch, bei der auch der Sprecher gezeigt wird, Fragen zum Inhalt zu beantworten. Ich kann hier nur raten – dieses Hörziel wird noch viel Übung brauchen. Ich glaube aber, dass ich Gesprächen mit englischen Gesprächspartnern, die ich selber steuere, folgen kann. Am Mittwoch treffe ich einen Arbeitskollegen aus Manchester, mit dem ich das mal ausprobieren werde.

Gesprächsführung ist für hörgeschädigte Menschen sehr wichtig, damit die Verstehenslücken optimal durch Mundablesen und Kombinieren gefüllt werden können. Ich muss wissen, worum es geht, sonst kann ich einer Unterhaltung nicht folgen. Das kann dazu führen, dass hörgeschädigte Menschen manchmal etwas gesprächsdominant wirken; dies ist allerdings die einzig mögliche Hörstrategie. Dazu gehört auch ein Unterbrechen der Sprecher, wenn man den Faden verliert und einen Rettungsanker braucht – oder aber in einer Gruppe gar nicht mitbekommt, dass jemand spricht oder gerade dazu angesetzt hat. Das ist manchmal etwas unangenehm. Ich mag es gar nicht, wenn man anderen ins Wort fällt. Meine Umgebung kennt das Problem und ist darauf eingestellt. Ich hoffe trotzdem, dass ich mit den Cochlea-Implantaten zu einem harmonischeren Gesprächspartner werde.

Und dann wieder Musik. Ich höre heute vor allem unbekannte Songs von Bands, die ich gerne mag. Die musikalische Entwicklung von U2 habe ich zum Beispiel nach The Joshua Tree, für mich eins der schönsten Alben aller Zeiten, nicht wirklich weiterverfolgen können; lediglich Numb ist mir geläufig. Außerdem höre ich mir Bands aus den 90ern an, bei denen ich immer das Gefühl hatte, dass ihre Musik mir gut gefällt, wie z.B. Pearl Jam oder die Stone Temple Pilots. Das meiste gefällt mir wirklich gut und ich freue mich drauf, noch sehr viel Neues zu entdecken. Die Kabelverbindung vom Soundprozessor zum Smartphone nervt auf Dauer ziemlich. Das Tragen von Kopfhörern mit Kabel bin ich nicht gewohnt. Ich hoffe sehr, dass Med-El bald eine kabellose Lösung auf den Markt bringt, die ein direkte Bluethooth-Verbindung mit dem Smartphone ermöglicht. Cochlear, der größte CI-Hersteller, ist seit dem Frühjahr schon so weit.

Später wage ich mich an das erste Hörspiel, nachdem ich bei der Suche nach dem Soundtrack des ersten Star Wars Teils auf Spotify aus Versehen das Hörspiel anklicke anstatt der Filmmusik. Ich verstehe hier erstaunlich gut – etwa 50 % aller Wörter kommen klar an. Möge die Hörmacht mit mir sein.

Meine ErstBesteHälfte schickt mir später auf dem Rückweg von einer weiter entfernt lebenden Freundin eine Sprachnachricht auf WhatsApp, die ich zu ca. 70 % verstehe. Und ich schicke meine erste Sprachnachricht zurück. Ist eigentlich praktisch – als überzeugter Chatter habe ich das noch nie gemacht. Chatten war für mich immer sehr wichtig. Meine Internet-Ausbildung habe ich in den 90er Jahren im Chat bekommen – im Internet Relay Chat zu einer Zeit, als fast nur Computerexperten dort aktiv waren. Viele meiner Freunde habe ich im Chat kennengelernt und später persönlich getroffen und es war fast immer eine tolle Erfahrung. Auch die ErstBesteHälfte habe ich im Chat kennengelernt – ich fühle mich in diesem Medium einfach sehr wohl, weil ich gerne schreibe und dort kein Handicap habe. Wenn das Verstehen weiter so viel Fortschritte macht, wird für mich etwas Neues hinzukommen.

Neu ist auch, dass das Telefon-Symbol meines Smartphones erstmals auf dem Startbildschirm ist – diese Funktion habe ich bislang nie gebraucht und werde jetzt erst einmal lernen, wie man ein modernes Telefon benutzt.

Tag 10 – Extra Tomato

Heute habe ich es wieder ruhig angehen lassen und die Garage aufgeräumt. Zwischendurch immer wieder Training mit den Hörtrainings-Apps von Asklepios (Deutsch) und Heroes (Englisch). Bei der deutschsprachigen App habe ich mittlerweile bei den meisten Übungen Trefferquoten von 80-100%; allerdings ist der Umfang der Übungen recht eingeschränkt. Der Fortschritt der zweiten Woche ist deutlich sichtbar:

   
KW 31                             KW 32

 

Heroes ist umfangreicher und macht etwas mehr Spaß, weil es auch ein paar Übungen mit Spielcharakter gibt. Die Bestellungen an der Burger-Kasse kann ich bereits zum Beispiel zu 80-90 % richtig erkennen und auch verschiedene Küchengeräusche identifiziere ich in dieser Größenordnung.

Über weitere Tipps zu Hörtraining-Apps würde ich mich sehr freuen.

Am Abend höre ich zum ersten Mal das Piepsen des Ofen-Timers. Die Pizza wird also künftig nicht mehr ganz so kross sein.

Tag 9 – Von Sternschnuppen, Schnarchnasen und Cyborgs

Nach einem guten Schlaf geht es zum Bäcker, um Frühstücksbrötchen zu kaufen. Ich gehöre zur Sorte der unentschlossenen Brötchenkäufer, die Bäckereifachverkäuferinnen an den Rand des Wahnsinns treiben können, weil sie nicht einfach 10 Brötchen bestellen, sondern sich von der Auslage überfordern lassen. Dann doch lieber ein Weltmeisterbrötchen statt eines klassischen Mehrkorns und doch lieber ein Mohnbrötchen weniger und dafür ein vegan-laktosefreies Dinkelroggen mehr und eigentlich könnten es auch 10 statt 8 Brötchen sein… liebe Bäckereifachverkäuferinnen der Welt: Ich will Euch wirklich nicht ärgern, aber das überfordert mich. Brötchen kaufen kann damit zu einer echten kommunikativen Herausforderung für Hörgeschädigte werden, weil es entsprechend viele Rückfragen gibt. Mit Cochlea-Implantat ist das wesentlich einfacher – ich brauchte keine Wiederholungen und habe auch den Preis verstanden. Und die Bäckereifachverkäuferin braucht keine Kaffeepause zur Erholung.

Ein schöner Start in den Tag, den ich ansonsten mit Ausmisten und Aufräumen verbringe. Zwischendurch übe ich ein wenig mit meinen Hörtrainings-Apps (siehe Links) und erziele nach ein paar Minuten auf Anhieb gute Ergebnisse. Bestimmte Konsonanten und Vokale funktionieren nach wie vor nicht gut – ich verstehe zum Beispiel sehr gut den Unterschied zwischen Cat und Mat oder Tap und Map, aber Mail oder Hail verstehe ich sehr schlecht während andererseits Snail und Snake sehr gut zu verstehen sind. Ich bin gespannt, inwieweit die Erstanpassung in der ersten Septemberwoche hier korrigierend eingreifen kann.

Am Abend ist ein Nacht-Picknick bei Freunden angesagt; wir wollen gemeinsam Sternschnuppen schauen, die sich für heute Nacht angekündigt haben. Für Hörgeschädigte ist so etwas deutlich weniger romantisch als für nicht hörgeschädigte Menschen, denn es fehlt etwas, was zum Verstehen für mich bislang enorm wichtig ist: Licht. Ich benötige ein deutlich sichtbares Mundbild zum Verstehen. Ich liebe es zwar, mit Freunden Abends bei Kerzenschein zu sitzen, aber ich verstehe dann kein Wort, sondern muss die Gesprächspartner anleuchten. Wer auf US-Cops und nächtliche Verkehrskontrollen steht, findet das sicher romantisch – im Normfall fall dämpft es aber die Stimmung. Ich kann mich auch im Bett nicht ohne Festbeleuchtung mit der ErstBestenHälfte unterhalten. Ich brauche zum Verstehen Licht.

Der Abend ist trotzdem ein toller Erfolg. Wir sind sechs Personen; in der Dämmerung kann ich den Gesprächen zwar nicht flüssig, aber halbwegs folgen. Natürlich erfordert dies volle Konzentration und ich brauche zwischendurch Hörpausen, in denen ich aus dem Gespräch aussteige. Als es dunkler wird, setze ich zum ersten Mal seit neun Tagen mein Hörgerät auf der linken Seite ein, um ein bißchen Hörhilfe auf der anderen Ohrseite zu erhalten – und bin schockiert. Wie konnte ich damit hören? Alles klingt total dumpf und unscharf und ich kann kein einziges Wort mehr verstehen, nachdem ich den Soundprozessor ausschalte. Es fühlt sich unangenehm an. Mit dem Implantat hingegen klingt alles glasklar und deutlich. Mein Gehirn hat sich schon nach neun Tagen komplett auf das CI eingestellt und kann und will mit dem alten Hören nicht mehr viel anfangen. Spätestens jetzt ist mir klar, dass ich auch auf der linken Seite ein Cochlea-Implantat haben möchte – und zwar schnellstmöglich.

Später schlafe ich im Dunkeln auf der Picknickdecke kurz ein. Als ich wach werde, höre ich die ErstBesteHälfte Du Schnarchnase sagen. Im Dunkeln. Ohne Mundbild.

Wir sitzen danach noch lange auf der Terrasse und ich bemerke, dass ich einem Gespräch mit sechs Personen noch nicht folgen kann – die Themen und die Sprecher springen zu schnell hin und her. Dennoch verstehe ich immer wieder Wörter und Satzfetzen und kann ein paarmal in eine laufende Diskussion einsteigen. Auch das war mit Hörgerät nie möglich: Verstehen ohne vorher zu wissen, worum es geht. Gegen ein Uhr sind wir nur noch zu viert und das macht die Situation deutlich entspannter. Wir diskutieren fast zwei Stunden angeregt über philosophische Fragen bei Implantaten, mit denen sich vor allem Enno Park intensiv beschäftigt. Enno, ein deutscher Journalist und Informatiker, der selber beidseitig mit Cochlea-Implantaten versorgt ist, hat den Verein Cyborgs e.V. ins Leben gerufen, der sich für die Rechte implantierter Menschen und unter anderem dafür einsetzt, dass Implantat-Träger selbst an die Codes und Schnittstellen ihrer Geräte heran dürfen, um zum Beispiel Einstellungen zu verändern oder Zubehör dafür zu entwerfen. Das ist ein spannendes und kontroverses Thema und dementsprechend ist auch unsere Diskussion sehr anregend und interessant.

Besonders interessant ist: Ich verstehe jedes Wort. Und das nach einem langen Tag. Und ich habe drei Sternschnuppen am Himmel gesehen. Was will man mehr.

Tag 8 – Drums & Honors

Heute habe ich mich bei Prof. Dr. Lenarz, dem Leiter der HNO-Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover, für die hervorragende Betreuung und Durchführung der Operation bedankt. Ich war anfangs skeptisch bei der Auswahl der Klink, weil ich vereinzelt negative Kritik über die Beratung dort gelesen habe – die MHH ist sehr groß und führt sehr viele Cochlea-Implantationen durch, was eine straffe Organisation erfordert. Der Ablauf dort ist perfekt durchorganisiert und man durchläuft in den zwei Tagen vor der OP jede Menge Voruntersuchungen, was natürlich anstrengend ist. Ich habe mich allerdings nie gehetzt gefühlt und an jeder Station waren die behandelnden Ärzte und PflegerInnen durchweg freundlich und haben mir alle Fragen ausführlich beantwortet.

Dank der Zusammenarbeit mit dem nebenan liegenden Deutschen Hörzentrum ist auch ausreichend Zeit gewesen, sich über die verschiedenen Implantat-Hersteller zu informieren, die Geräte anzuschauen und ‚anzuprobieren‘. Natürlich kann man vorher nicht ausprobieren, wie die verschiedenen Prozessoren klingen, aber die Passform, Haptik und das Bauchgefühl sind ebenfalls wichtige Entscheidungsfaktoren – ein gutes Sprachverständnis ist mit allen dort angebotenen Produkten möglich. Die Beratung im Hörzentrum war sehr umfangreich und ich wurde auch nicht zu einem bestimmten Produkt hin gedrängt oder überredet.

Ausschlaggebend für die Entscheidung war letztendlich die große Erfahrung, die das HNO-Team der MHH mit Implantationen hat. Da ich im Krankenhaus durch einen Kunstfehler schwerhörig geworden bin, hatte ich große Angst vor diesem Eingriff und mir war wichtig, dass die behandelnden Ärzte viel Erfahrung bei dieser Operation haben. Sicherlich gibt es viele weitere gute Kliniken in Deutschland und ich kenne viele Erfahrungsberichte von CI-Trägern, die auch anderswo sehr zufrieden gewesen sind. Ich kann nur das beurteilen, was ich selbst erlebt habe – und das war der beste Krankenhausaufenthalt meines Lebens.

Ich schlafe immer besser und bin heute spät aufgestanden, weil ich gestern Nacht lange Konzerte auf YouTube geschaut habe. Und habe mich dann ans Schlagzeug gesetzt. Ich habe seit zwei Jahren Schlagzeugunterricht, weil dies das einzige Instrument ist, das ich mit Hörgeräten noch gut hören kann – und weil ich es sowieso schon immer toll fand. Leider kann ich nur solo spielen und nicht mit Musik, weil Drumschläge für Hörgeräte und auch Soundprozessoren ein Worst Case sind. Normalerweise versuchen die Geräte ja laute Knallgeräusche zu unterdrücken und sind auf das Verstehen von Sprache optimiert. Das führt dazu, dass ich beim Drummen keine Umgebungsgeräusche mehr wahrnehme und auch Musik, die entweder direkt ins Hörgerät oder in eine sehr laute Aktivbox geleitet wird, nicht mehr sauber höre und deshalb dem Takt nicht folgen kann. Ich habe hier alles Mögliche versucht: Mit Vibrationsmetronomen, Musik-Visualisierungs-Apps, die den Takt als visuelles Muster wiedergeben, Schlagzeugdämpfern und verschiedenen Hörprogrammen – bisher ohne Erfolg.

Mit dem Cochlea-Implantat geht das deutlich besser. Ich kann das erste Mal zumindest ruhigen Songs problemlos im Takt folgen, auch wenn die Musik nicht mehr gut klingt, wenn das Schlagzeug dröhnt. Das ist ein Riesenerfolg – ich hatte erwartet, dass der Soundprozessor in so einer Extremsituation auch kapituliert. Leider kann ich die Umgebungsgeräusche nicht stumm stellen, wenn der Soundprozessor direkt ans Smartphone angeschlossen ist; das sollte man bei der Erstanpassung aber ändern können. Insgesamt bin ich optimistisch, dass ich mit einem entsprechenden Setup irgendwann Schlagzeug zu Musik spielen kann. Mit dem Audiologen habe ich bei der Frühanpassung bereits besprochen, dass ich eine Trommel mit zur Erstanpassung mitnehme.

Abends schaue ich mit der Familie „The Greatest Showman“ auf DVD – die Musik höre ich wirklich gut und es macht Spaß, aber es wird noch viel Arbeit brauchen, bis ich ohne Untertitel Filme schauen kann. Als großer Filmfan hoffe ich, dass ich irgendwann ins Kino gehen und das Gerede verstehen kann – das wäre fantastisch.

Tag 7 – Oma strickt blaue Strümpfe

Ich lache sehr gern und bin seit meiner Jugend ein großer Fan von Kleinkunst und Comedy. Einige meiner Leser wissen vielleicht, dass ich selbst vor einiger Zeit mit ‚Westerwave – no one can reach me the water‚ ein recht erfolgreiches Online-Comedy-Projekt am Start hatte, das ich nach dem Tod von Guido Westerwelle eingestellt habe. Während meiner Studienzeit habe ich jahrelang begeistert das Comedy Arts Festival in Moers besucht, das damals noch unter freiem Himmel stattfand und auch heute noch gehe ich gern auf Kleinkunstfestivals wie z.B. La Strada in Bremen. Ich habe eine große Vorliebe für Clowns, Jongleure (ich jongliere selber auch mit Bällen, Keulen, Fackeln und Diabolos), Kabarett und gute Komiker wie z.B. Loriot oder John Cleese, den ich wahnsinnig gern auf seiner finalen Tour live erlebt hätte, wenn ich ihn verstehen würde. Ich hoffe, dass ich irgendwann mal auf eine Comedy-Live-Veranstaltung gehen und dabei Spaß haben kann.

Für das Zuschauen von Jongleuren oder Pantomimen braucht man im Normalfall keine Ohren, aber alle Künstler, die mit Sprache arbeiten, sind für hörgeschädigte Menschen eine echte Herausforderung – es ist anstrengend, soll aber eigentlich entspannend sein. Ich habe mir in den letzten Jahren deshalb wenig Comedy angeschaut – zum Beispiel Extra-3, das komplett untertitelt ist und ab und zu immer wieder mal Oliver Kalkofes Mattscheibe – denn Kalkofe spricht enorm deutlich und hat ein hervorragendes Mundbild.

Ich erzähle dies alles, weil ich heute auf dem Laptop Comedy geschaut habe – ohne Untertitel. Und das funktioniert schon wirklich gut – wenn es auch nach wie vor große Konzentration erfordert. Nico Semsrott gefällt mir gut, Rüdiger Hoffmann ist auch toll zu verstehen – er spricht ja sehr langsam. Mario Barth (aus Rücksicht auf meine Leser ohne Link) ist so furchtbar flach, wie ich immer dachte und die meisten anderen Künstler, die derzeit mit Stand-Up-Comedy-Programmen über das TV flimmern, sind so lustig wie ein Hörtest mit Nadel durchs Trommelfell. Das bringt mich auf die Idee, eine Liste der Dinge zu machen, für ich auf keinen Fall hören möchte:

  • Mario Barth. Von vorne und von hinten  – hahahahaha!
  • Erbrechen. Hörte ich am Tag nach der Erstanpassung beim Bettnachbarn. Muss nicht sein.
  • Sämtliche Reden von Alexander Gauland und seinen Minions. Siehe „Erbrechen“. Ich hoffe, es gibt keinen Link dazu.
  • Alle Sätze, die mit „ein Youtuber…“ beginnen. Sorry, Junior II – es ist wundervoll, Deine Stimme zu hören, aber ich finde selbst Dein Schnarchen interessanter.
  • Nasse Füsse in Crocs. Ich hoffe, mein Audiologe kann das rausfiltern.
  • Chipstüten. Kartoffelchips gehören in eine Schale oder verboten.

Diese Liste wird noch erweitert – allzu viel habe ich ja noch nicht gehört.

Nach dem Comedy-Vormittag mache ich erste Versuche Englisch zu verstehen. In meinem Beruf läuft die Kommunikation überwiegend auf Englisch und das Verstehen dieser Sprache, die ich schriftlich sehr gut beherrsche, ist eines meiner großen Hörziele. Allerdings ist es gar nicht so einfach Videos zu finden, auf denen Englisch gesprochen wird, bei denen der Sprecher langsam und deutlich spricht und die sein Mundbild zeigen. Die ersten Versuche mit der Tonight Show von Jimmy Fallon sind zwar eher ernüchternd, aber immerhin verstehe ich einzelne Worte und kann mir erstmals vorstellen, dass verbale Kommunikation auf Englisch möglich ist, wenn mein Gegenüber langsam und deutlich spricht und ich weiß, worum es geht. Das wäre schon ein Riesenschritt nach vorne. Wer Tipps für Videos hat, auf denen man gut verständliches Englisch sieht, möglichst männlich, Alltagsthemen und kein Fachchinesisch, kann mir gern eine E-Mail schicken.

Später lade ich mir eine englischsprachige Hörtraining-App auf mein Smartphone – Hearoes. Die Resultate sind deutlich besser als erwartet – vor allem verbessert sich das Verstehen schon in kurzer Zeit enorm. Die Übungen sind teilweise wirklich anspruchsvoll – es gilt zum Beispiel herauszuhören, ob Rat, Bat, Hat, Map oder Nap gesprochen wird. Ich übe damit eine halbe Stunde und erreiche einmal 10 von 10 Punkten; im Normalfall verstehe ich 80% richtig. Interessanterweise sind die Ergebnisse fast doppelt so gut, wenn eine Männerstimme spricht – mit Frauen habe ich es gerade nicht so. Mario Barth würde sich jetzt vermutlich totlachen…

Am Nachmittag kommt eine Freundin aus der Nachbarschaft vorbei und freut sich riesig. Dann besuche ich noch meinen Tennispartner und auch er ist ziemlich beeindruckt. Ich verstehe ihn wirklich gut, selbst als er testweise „Oma strickt blaue Strümpfe“ sagt um herauszufinden, ob ich wirklich so gut höre. Das wäre vorher nie möglich gewesen – ohne passenden Kontext war ich selbst mit Mundbild aufgeschmissen. Denn das Lippenablesen funktioniert selbst bei Power-Lippenablesern nur dann, wenn man halbwegs weiß worum es geht – wie viele lustige „Bad-Lipreading-Videos“ auf Youtube zeigen – wie zum Beispiel von Mark Zuckerbergs Anhörung. Auch Donald Trumps Treffen mit Kim Jong-Un ist wirklich herrlich gemacht- und die Untertitel passen perfekt zum Mundbild.

Am frühen Abend bin ich dann k.o. und das elektronische Ohr macht erst einmal Pause. Insgesamt merke ich heute, dass mir der ruhige Tag gestern sehr gut getan hat. Es ist grade nicht so einfach, die richtige Balance zwischen meinem akustischen Entdeckerdurst und meiner körperlichen und mentalen Leistungsfähigkeit zu finden. Alles ist immer noch sehr aufregend und ich muss mich selber manchmal bremsen.

Spät am Abend schaue ich ein komplettes Konzert der Red Hot Chilli Peppers auf  Youtube. Ich freue mich wahnsinnig auf das erste Live-Konzert mit Implantat.

Tag 6 – Langsam fahren

Ich habe heute etwas besser geschlafen. Morgens lasse ich das elektronische Ohr erst einmal aus, bis ich richtig wach bin und fahre dann zu meinem Hausarzt, der sich sehr über die bisher erzielten Erfolge freut.

Das Autofahren genieße ich so sehr, dass ich durchweg langsam fahre. Das gab es noch nie. Ich höre meine Spotify-Listen, versuche auch Radio zu hören aber das klappt noch nicht wirklich gut. Ebenfalls schwierig ist das Anhören von What’s App Textnachrichten der ErstBestenHälfte (EBH) über Android Auto und die Freisprechanlage. Denn ich wusste bislang nicht, dass nicht nur der Nachrichtentext vorgelesen wird, sondern dass davor und danach Hinweise gegeben werden:

„X hat geschrieben: [Nachricht] Blablabla“.

So wird aus einem einfachen „OK“ eine echte Hörherausforderung.

Der Tag verläuft sonst eher hörpassiv; ich schreibe dieses Blog und habe das elektronische Ohr dabei überwiegend aus. Manchmal ist es wirklich praktisch, wenn man seine Ohren abstellen kann.

Die Batterien des Soudprozessors halten leider nicht so lange wie gedacht. Ich komme damit ein- bis eineinhalb Tage aus; dann muss ich wechseln. Wie die Akkus sich im Alltag schlagen, wird sich erst noch zeigen. Mit den Laufzeitangaben bei Hörgeräten und Soundprozessoren ist es ein bißchen wie mit Abgaswerten bei Autos: Theoretisch möglich, aber praktisch nahezu unerreichbar. Die Messzielgruppe ist vermutlich im Durchschnitt 75 Jahre alt und schläft täglich 12 Stunden. Ein Power-User, der das elektronische Ohr 18 Stunden aktiv nutzt, verbraucht wahrscheinlich das Doppelte des angegebenen Wertes.

Abends schaue ich zum zweiten Mal mit dem elektrischen Ohr TV, bin aber zu müde, um Verstehen zu üben. TV wird erst dann interessant, wenn ich Zubehör habe, das den Ton direkt ins elektronische Ohr überträgt. „Falling Down“ ist trotzdem immer wieder klasse.

Tag 5 – Traumdeutung

Ich schlafe nach wie vor schlecht und wache sehr früh auf, weil ich ein überzeugter Rechtsschläfer bin und auf der linken Seite nur schlecht Ruhe finde. Der Kopf tut nach dem Aufstehen weh und ist verspannt, wenn ich liege. Es scheint ungefähr eine Stunde zu dauern, bis sich meine Physiognomie wieder auf die aufrechte Stellung eingestellt hat und ich mich mich wohl fühle und das elektronische Ohr aufsetze. Das Hörgerät des linken Ohres bleibt auch heute draußen.

Den Morgen widme ich Spotify und erstelle Playlists mit meinen Lieblingssongs aus den 80ern und meinen Indie-Favoriten. Die ErstBesteHälfte (EBH) steht ein wenig später verschlafen hinter mir und will mir ihren nächtlichen Traum erzählen. Traumerzählungen sind für Hörgeschädigte ein echter Worst-Case, denn es ist alles möglich und die bekannten, logischen Erzählmuster funktionieren hier nicht mehr, was Kombinieren nahezu unmöglich macht. „Erst saß ich im Auto und fuhr in den Kühlschrank und dann tauchte Herr Meier auf und spielte „Another Brick in the Wall“ auf einem himmelblauen Kitchen-Aid-Toaster“. Wer das auf Anhieb versteht, hat in der Kategorie „Hörgeschädigt“ eigentlich nichts mehr zu suchen. Kleiner Tipp für die Hersteller von Hörtest-Apps: Zusätzlich zu den Kategorien Einfach/Mittel/Schwer noch die Schwierigkeitsstufe „Ehefrau erzählt Traum“ einbauen – und dann einfach beliebige Wortkombinationen bilden und miteinander verknüpfen.

Den Vormittag lasse ich ansonsten ruhig angehen und kümmere mich um Schriftkram, ein wenig Haushalt und das Bewässern der Pflanzen, die unter der andauernden Trockenheit stark leiden. Ich merke schnell, dass ich körperlich noch nicht wirklich belastbar bin und auch ohne Hörtraining rasch abbaue. Nach einer Stunde Hörpause versuche ich dann zum ersten Mal seit vielleicht 30 Jahren, meine Mutter anzurufen. Leider ist sie nicht erreichbar, aber ich verstehe tatsächlich die Durchsage am Telefon „der gewünschte Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal“. Danach kommt Kauderwelsch, was sich hinterher als englische Version dieser Durchsage herausstellt. Das überfordert mich natürlich. Noch…

Am Nachmittag steht ein Termin bei meinem Hörgeräteakustiker an, um mein bisher genutztes Ohrpassstück rechts an die Größe des Soundprozessors anzupassen, damit ich bei der Erstanpassung testen kann, ob die Hybridfunktion nutzbar ist, die zusätzlich zur elektronischen Übertragung an das Hörimplantat tiefe Töne wie ein Hörgerät in die Hörmuschel sendet. Auch dieser Termin ist toll: Ich verstehe meinen Akustiker auf Anhieb deutlich besser als mit Hörgeräten. Er freut sich sehr über meinen Erfolg und gibt mir wertvolle Tipps für die Beantragung von Zubehör, das ich im Beruf brauchen werde, mit auf den Weg  – wie z.B. Richt- oder Raummikrofone für ein besseres Hörverständnis in Meetings.

Anschließend steht noch ein kurzer Besuch im Uhrenladen an. Die Verkäuferin verstehe ich ohne Mundablesen nicht und muss Sie auf Gesichtskontakt hinweisen – dann ist das Verständnis aber prima. Auch beim Bäcker, wo ich mir anschließend einen Latte gönne, verstehe ich nicht so gut, sondern muss den Preis an der Kasse ablesen. Vielleicht liegt es an der Hitze heute oder an der undeutlichen Artikulation der Verkäuferin. Auch im Fahrradladen, wo ich zusammen mit Junior I Zubehör besorge, verstehe ich kein Wort. Auch wenn mein Sohn mir sagt, dass selbst er den Fahrradmenschen sehr schlecht verstanden hat sind die heutigen Einkaufserlebnisse nach den ganzen euphorischen Begebnissen der letzten Tage ein bißchen frustrierend. Ich muss aufpassen, dass ich nicht zu schnell zu viel erwarte.

Als ich später zuhause im Garten sitze, fällt mir ein Geräusch auf, das meine EBH als Vogelzwitschern identifiziert. Ich höre tatsächlich Vogelzwitschern. Das klingt übrigens viel schöner als feierabendreife Bäckereifachverkäuferinnen mit Akzent. Ebenso schön ist es, die Stimme meiner EBH am Telefon zu hören. Wir versuchen ein erstes Telefonat und ich verstehe kurze Sätze und einzelne Wörter gut; bei längeren Sätzen und wenn ich nicht weiß, worum es geht, stoße ich schnell an meine Grenzen.

Am frühen Abend versuche ich dann erneut, meine Mutter anzurufen. Meine EBH hört das Gespräch mit, um dolmetschen zu können, wenn es gar nicht mehr geht. Meine Erwartungen sind sehr niedrig, aber es ist einen Versuch wert. Tatsächlich verstehe ich am Anfang einfache Sätze und Antworten, so lange ich das Gespräch führe. Meine Mutter ist sehr ergriffen und kann es kaum fassen. Ich baue beim Gespräch allerdings sehr schnell ab und am Ende geht es wieder nur mit dolmetschender Ehefrau – aber insgesamt ist das ein toller Erfolg und ich habe das sichere Gefühl, irgendwann wieder halbwegs telefonieren zu können. Einen Job bei der Telekom-Hotline werde ich natürlich auch mit zwei Implantaten nicht machen können. Es gibt Schlimmeres.

Anschließend rufe ich noch einen sehr guten Freund an, der nicht über die Implantation informiert war und den ich überraschen möchte. Zu Beginn des Gespräches bemerkt er nicht, was an der Situation ungewöhnlich ist. Erst als ich ihn frage, wann wir zum letzten Mal telefoniert haben, wird er stutzig und begreift, dass tatsächlich ich am anderen Ende bin und ihn zumindest teilweise auch ohne dolmetschende Hilfe verstehe. Das ist auf der einen Seite zwar etwas ernüchternd, weil ich ich davon ausgegangen bin, dass er die Fassung verliert, wenn ich ihn verstehe, aber andererseits eigentlich schön, denn es zeigt mir, dass meine Umgebung mich eigentlich gar nicht als hörbehindert wahrnimmt, auch wenn sie alles dreimal sagen muss.

Am Abend bin ich richtig k.o. Das elektronische Ohr bleibt bis zum Schlafen gehen draußen. Ich brauche Ruhe.

Tag 4 – Mondscheinsonate

Heute morgen geht es zum HNO-Arzt. Meine ErstBesteHälfte (EBH) begleitet mich, aber ich kann das Gespräch mit der Sprechstundenhilfe am Empfang problemlos alleine führen. Wir werden durch ein Telefonat unterbrochen – eine andere Patientin braucht einen Termin. Obwohl das Mundbild der Sprechstundenhilfe nur schlecht zu sehen ist verstehe ich viele Details.

Mein HNO-Arzt ist über die Erfolge hocherfreut und schreib mich direkt zwei Wochen krank. Es könnte schlimmer sein. Die Wunde sieht gut aus und verheilt problemlos. Die Schwellung ist fast nicht mehr vorhanden.

Anschießend gönnen die EBH und ich uns ein schönes Frühstück im Cafe. Auch hier verstehe ich die Bedienung wirklich gut und habe keine Kommunikationsprobleme.

Am Nachmittag fahre ich Junior I zu einem Fußballspiel seiner Mannschaft. Ein Freund fährt auf dem Rücksitz mit und mit Hilfe seines Mundbildes im Rückspiegel kann ich seinen Urlaubserzählungen weitgehend folgen; auch das ist neu. Kinder und Jugendliche habe ich bislang immer sehr schlecht verstanden. Auch die Fußballeltern freuen sich sehr über meinen Erfolg und ich lausche vielen Gesprächen, die ich zwar noch nicht komplett, aber zumindest etwas und deutlich besser verstehe als mit Hörgeräten.

Am Abend sitze ich lange am Klavier und übe Töne zu unterscheiden. Ich spiele einige Lieder, die ich aus meiner Kindheit noch in Erinnerung habe und ein paar Popsongs – ich habe viel vergessen. Das wird aber wiederkommen. Und ein neues Ziel: Bis Ende des Jahres will ich mein Lieblingsstück, den ersten Satz von Beethovens Mondscheinsonate, wieder flüssig spielen können.

Tag 3 – Musik und Barbecue

Ich habe schlecht geschlafen, denn ich finde einfach keine komfortable Schlafposition. Alles in mir will sich auf die rechte Seite legen – das ist aber nicht wirklich ratsam. Also schlafe ich nur stundenweise, bin tagsüber aber dennoch fit – die Euphorie wirkt wie ein Aufputschmittel.

Essen ist laut. Vor allem mit zwei Kindern. Und anstrengend, wenn man alles über neueste Apps, Youtuber, Youtube-Fails, Bayern München und Verschwörungstheorien verstehen will. Ich will aktuell niemanden enttäuschen und die Kinder freuen sich riesig, mir endlich mehr erzählen zu können. Ich hoffe aber sehr, dass es mittelfristig noch andere Themen am Tisch geben wird. Meine ErstBesteHälfte, die sich das seit Jahren anhören muss, tut mir ein bisschen leid.

Ansonsten lasse ich es heute erst einmal ruhig angehen. Mittags lege ich mich wieder auf das linke Ohr, am Nachmittag grillen wir Burger mit den Nachbarn. Ich verstehe auch hierbei viel mehr als sonst – selbst bei Sprechern, die ein schwieriges Mundbild haben. Allerdings ist es schwierig, vier Tage nach einer OP einen fetten Burger zu essen, weil die Kauleiste noch nicht wieder soweit aufgeht, wie ich es gewohnt bin. Also werden es Burger light.

Nach dem Grillen lege ich mich ins Bett und höre Musik über die Bose-Bluetooth-Box. Das Erlebnis ist ähnlich beeindruckend wie im Auto – die hohen und mittleren Töne werden vom Implantat klar wiedergegeben und der Bass liegt auf meinem Bauch. Ich höre alle bekannten und auch erste unbekannte Songs und genieße es unendlich. Mit der Bose-Box experimentiere ich dann, wie gut das Richtungshören funktioniert – und das ist etwas frustrierend, weil ich nur dann wirklich „gut“ höre, wenn die Box sich in gerader Linie vor dem Soundprozessor befindet. Sobald ich sie zur Seite bewege, werden mittlere und höhere Töne leiser. Ich hoffe, dass man dies in den Feineinstellungen noch optimieren kann.

Was mich auch nervt: Meine eigene Stimme kommt mit ein wenig Verzögerung im Ohr an – wie ein Echo. Das ist verwirrend. Allerdings höre ich mich selber klar und deutlich und merke bei jedem Satz, wie undeutlich meine Aussprache war. Schon am gestrigen Abend meinte eine Nachbarin zu mir, dass ich wesentlich deutlicher spreche. Das ist ein toller Nebeneffekt, mit dem ich so schnell auch nicht gerechnet habe.

Und noch etwas, das am Anfang nicht gut funktioniert: Fernsehen. Hier verstehe ich sehr schlecht – vermutlich wegen der Entfernung zum TV. Dieses Problem wird sich mit entsprechendem Zubehör aber noch lösen lassen. Ich schaue generell sehr wenig fern – insofern ist das jetzt nichts, was meine Stimmung dämpfen kann.

Auch Klavierspielen ist noch schwierig –  ich höre zwar hohe Töne enorm deutlich, die mittleren und tiefen aber noch nicht wirklich gut. Dennoch ist es weitaus besser als mit Hörgeräten und das ist letztendlich das, was zählt.

Ich werde sicherlich noch einige Rückschläge erleben. Manches wird nicht funktionieren, aber anderes dafür umso besser. Darauf werde ich mich fokussieren – dann sind auch Enttäuschungen kein Grund, den Kopf hängen zu lassen.

Tag 2 – Clogs gehören verboten

Nach nur wenig Schlaf traue mich erst nicht, das elektrische Ohr einzuschalten, weil ich Angst habe, dass der gestrige Tag nur ein verrückter Traum war. Aber es funktioniert immer noch. Das Hörgerät bleibt auch heute den ganzen Tag draußen. Mittlerweile bin ich an einen Fensterplatz gewechselt und genieße die schöne Aussicht auf das hochsommerliche Hannover.

Ich höre die Schwester im Türrahmen sprechen, etwa 4 Meter entfernt, und verstehe einzelne Wörter. Ich verstehe meinen Bettnachbarn, der heute entlassen wird, zum ersten Mal richtig. Am Anfang hört sich wieder alles sehr Micky Maus-mäßig an; nach ein paar Minuten werden die Stimmen zunehmend natürlicher. Ich packe meine Sachen und bin kurz darauf entlassen und warte auf meine Familie – die ErstBesteHälfte (EBH) und Junior I kommen mich abholen.

Die Clogs meiner EBH sind die Hölle. Ich werde diese Schuhe verbieten lassen oder verbrennen. Der Parkautomat in drei Meter Entfernung gibt Kleingeld zurück. Überall unterhalten sich Menschen und ich schnappe Wortfetzen auf. Es ist der pure Wahnsinn.

Im Auto mache ich Musik an. Der Wagen hat eine Soundanlage von Canton, die nicht nur einen hervorragenden Klang sondern auch ordentlich Bass bietet. Die Kombination aus der Musik, die ich per Implantat höre und dem gefühlten Bass im Auto ist ein Musikerlebnis, das den gestrigen Abend nochmal bei weitem übertrifft. Ich kann es nicht beschreiben, es hört sich einfach nur unfassbar toll an. Ich hoffe, dass diese Fahrt nie endet und freue mich jetzt schon auf die nächsten berufsbedingten Fahrten nach Walldorf.

Wir fahren erst einmal ins Einkaufzentrum, um einen Doppelstecker zu kaufen, mit dem ich sowohl den Soundprozessor als auch die Kopfhörer meiner EBH an mein Handy verbinden kann. Sie kann damit meine Telefonate mithören und bei Bedarf dolmetschend eingreifen. Die Geräuschkulisse im Einkaufszentrum ist angenehm ruhig – das Hörgerät liefert hier einen undurchdringlichen Brei von Geräuschen und Rauschen, was sehr anstrengend ist. Ich lasse mich bei Saturn beraten und verstehe den Preis des gewünschten Adapters.

Wieder im Auto rufe ich Junior II über die Freisprechanlage an und verstehe erneut einige Wörter und sehr kurze Sätze. Ich bemerke aber auch, dass ich schnell müde werde und brauche eine Hörpause. Auf dem Weg nach Hause läuft wieder Musik. Interessanterweise sind manche Stimmen nach wie vor sehr „Micky Maus-mäßig“ – die Stimme von Freddy Mercury hört sich überwiegend furchtbar an. Bei vielen anderen Songs nehme ich die Stimmen allerdings deutlich natürlicher wahr. Bislang habe ich noch keinen Song gehört, der mich von der Instrumentierung her überfordert hat.

Unterwegs holen wir bei unserem Stammimbiss noch Döner für alle. Ich verstehe auch hier den Preis auf Anhieb. Das ist etwas, was das Leben sehr erleichtert, denn wenn man einen Preis nicht versteht und etwas Falsches bestätigt, wird die Situation oft ein bisschen peinlich und man hat das Gefühl, das Gegenüber glaube man wolle über den Preis diskutieren.

Zuhause angekommen fällt mir dann Junior II um den Hals. Die Kinder sind sehr neugierig und probieren alle möglichen Geräusche aus wie z.B. Pfeifen, Fingerschnippen, Kratzen mit dem Besteck und vieles andere mehr. Harte Geräusche wie Klackern und Knallen sind noch überproportional laut, Stimmen dagegen eher leise. Ich nutze mittlerweile überwiegend das lauteste Programm des Soundprozessors – die Programmbelegung wurde mit verschiedenen Lautstärkestufen belegt – und fahre die Geräuschempflindlichkeit etwas runter, weil Klackern und Scheppern sonst zu laut ist.

Nach der Begrüßung setze ich mich ans Klavier. Und merke, dass einige Tasten verstimmt sind. Ich konnte mit Hörgerät Töne nur mit 2-3 Tonabständen voneinander unterscheiden. Und jetzt merke ich auf Anhieb, welche Tasten verstimmt sind – Junior I bestätigt dies. Dann ein Test mit Gitarre – auch hier höre ich, dass die Saiten verstimmt sind. Und dann teste ich mein Schlagzeug, das ich seit 2 Jahren spiele. Anfangs hören sich alle Drums gleich an – Snare, Hängetoms, Stand-Tom und sogar die Bassdrum. Nachdem ich aber ein paar Minuten die unterschiedlichen Drums abwechselnd geschlagen habe, kristallisieren sich Hörunterschiede heraus – nach ca. 10 Minuten sind dann klare Unterscheidungen hörbar. Die Becken hören sich von Anfang an wundervoll an – die Hörgeräte haben hier nur ein Scheppern übertragen. Mit Impantat kann ich die Tonhöhen der Becken klar voneinander unterscheiden.

Junior I an der Gitarre und ich am Schlagzeug versuchen eine erste vorsichtige Session. Und zum ersten Mal überhaupt kann ich mit den Drums den Takt zu seinen Gitarrenakkorden spielen und rutsche nur ein wenig aus dem Takt heraus.

Abends kommen die ersten Nachbarn zum Feiern und ich kann zum ersten Mal in den 11 Jahren, in denen ich hier wohne, ein Gespräch im Dunkeln verfolgen. Ich verstehe nicht alles und auch nur dann, wenn der Sprecher oder die Sprecherin direkt zu mir spricht und nicht zu weit entfernt sitzt. Zurückhaltende Personen verstehe ich schlechter als Emotionsbündel. Erdnussflips machen einen Heidenlärm – ich werde das Zeug nicht mehr essen. Neben dem besseren Hören kommt dann noch eine Gewichtsabnahme hinzu. Das Leben ist schön.