Kategorie: Allgemein

Tag 21 – Smalltalk

Momentan vergeht kein Tag ohne schöne Erlebnisse. So viele Dinge sind einfacher geworden, weil ich einfach mehr verstehe. Es ist nicht so, dass ich mein Leben mit Hörgeräten als schwer empfunden habe. Natürlich macht so ein Handicap vieles schwieriger. Natürlich gibt es Momente, in denen man seine Ohren verflucht. Aber letztendlich ging es mir immer gut damit – ich habe einen tollen Job, eine tolle Familie, viele Freunde, ein schönes Zuhause und Spaß am Leben. Meine Mutter sagte mir früher immer: Was uns nicht umbringt, macht uns stärker. Diese Stärke sieht man nicht immer auf den ersten Blick: Man sieht den Rollstuhl vor der Treppe, den Blindenstock am Gehsteig, das Hörgerät oder die körperliche Fehlbildung. Man sieht aber nicht (oder nur bei Menschen, die man sehr gut kennt) das Positive, das ein Leben mit so einem Handicap mit sich bringt: Die Fähigkeit, damit umzugehen und trotz allem glücklich zu sein. Das klappt natürlich nicht bei jedem – aber das ist bei Menschen ohne Handicap nicht anders.

Schwerhörigkeit hat neben der Hörbeeinträchtigung selbst zwei große Nachteile gegenüber anderen Behinderungen: Zum Einen sieht man die Beeinträchtigung nicht. Man sieht vielleicht ein Hörgerät oder Cochlea-Implantat, aber im Vergleich zu einem Rollstuhl oder anderen deutlich sichtbareren körperlichen Einschränkungen wiegt dies auf den ersten Blick nicht so schwer. Du kannst ja alles – die Hörgeräte sind doch so klein. Ich kann fast alles, das stimmt. Aber was ich schlecht kann, ist verbale zwischenmenschliche Kommunikation. Ich verstehe andere Menschen schlecht. Auch damit kann man ein tolles Leben führen, aber es schränkt viel mehr ein, als man gemeinhin glaubt. Denn Verständigung ist die Basis des sozialen Zusammenlebens.

Ich habe Freunde, die im Rollstuhl sitzen – keiner von ihnen würde mit mir tauschen wollen. Auch blinde Menschen, die ich im Lauf meines Lebens kennengelernt haben, würden niemals mit mir tauschen wollen. Ich mit ihnen allerdings auch nicht – denn im Endeffekt lernt jeder, mit seinem persönlichen Handicap klarzukommen. Und man kann die Vor- und Nachteile verschiedener Behinderungen nicht vergleichen oder gegeneinander aufrechnen.

Zum Anderen kann man sich schlecht oder nur gar nicht vorstellen. Man kann sich vorstellen, nicht zu laufen und im Rollstuhl zu sitzen. Man kann die Augen schließen und sich vorstellen, blind zu sein. Man kann humpeln oder versuchen, sich nur mit einem Arm ein Brot zu schmieren. Man kann sich vorstellen, zu leise zu hören. Aber man kann sich nicht wirklich vorstellen wie es ist, schlecht zu verstehen. Man hört bestimmte Frequenzen nicht. Ich habe zum Beispiel keine Konsonanten gehört. Die Sprachqualität ist immer schlecht. Man muss sich unglaublich konzentrieren, um selbst einfache Gespräche zu führen. Ich verbildliche hörgeschädigtes Hören gerne so:

Stell Dir vor, Du sitzt an einem Tisch mit 10 Personen, die sich in einer Sprache verständigen, die Du nur ein kleines bißchen beherrschst. Von draußen dringt lauter Baustellenlärm an Dein Ohr. Du hast 24 Stunden nicht geschlafen und Dein Konzentrationsvermögen ist erschöpft. Deine Ohren sind verstopft. 

Das ist in etwa mein Alltag mit Hörgeräten. Mit Cochlea-Implantat würde ich es am Tag 21 so beschreiben:

 Stell Dir vor, Du sitzt an einem Tisch mit 10 Personen, die sich in Deiner Muttersprache verständigen, aber etwas leise sprechen. Draußen ist ein bißchen Verkehrslärm. Du hast einen normalen Arbeitstag hinter Dir und muss Dich etwas konzentrieren.

Der heutige Vormittag ist ausgefüllt mit Vorbereitungen für meine Geburtstags- und Implantationsparty am Samstag. Am Nachmittag fahre ich nach Hamburg, um bei einem alten Arbeitskollegen einen höhenverstellbaren Schreibtisch abzuholen, den ich wegen des Umzugs seines Arbeitgebers sehr günstig erwerben kann. Junior I kommt zur Unterstützung mit und wir haben eine tolle Unterhaltung im Auto, in der es mal wieder um Musik geht: Wir gehen gemeinsam meine Playlist für die Party durch. Und um den Blödsinn, den ich in meiner Jugendzeit und auch danach angestellt habe. Ein unerschöpfliches Thema…

Bei der Abholung freue ich mich sehr, meinen ehemaligen Kollegen wiederzusehen und treffe noch einen weiteren alten Arbeitskollegen, mit dem ich Anfang der 00er Jahre zusammen bei meinem ersten Arbeitgeber angestellt war. Ich verstehe beide deutlich besser als mit Hörgeräten und genieße ein kurzes, berufliches Smalltalk. Dann geht es zurück nach Hause.

Am Abend kommt ein Arbeitskollege von SAP zu Besuch, der mit seiner Familie auf Urlaubsrückreise von Skandinavien nach Baden-Württemberg ist, ebenfalls sehr schlecht hört und in dieser Woche auch ein Cochlea-Implantat bekommt. Auch seine Frau trägt auf einem Ohr ein CI und auf dem anderen ein Hörgerät. Es tut immer gut, sich mit anderen ‚Betroffenen‘ zu unterhalten und wir verbringen einen wunderbaren Abend und darauf folgenden Morgen und freuen uns sehr auf das nächste Wiedersehen.

Tag 20 – Blauer Anzug

Der Tag beginnt mit einem Arztbesuch, weil Junior I ein wenig kränkelt. Arzttermine sind für hörgeschädigte Menschen aus mehreren Gründen oftmals schwierig. Man muss alles verstehen und kann wenig kombinieren, wenn es um Krankheiten und medizinische Fachbegriffe geht. Dreimal oder zweimal täglich? Herz oder Schmerz? Darm oder Magen? Zäpfchen oder Tablette? Es kann unangenehm enden, wenn man diese Begriffe verwechselt.

Dazu kommt, dass man Anweisungen oft nicht versteht, wenn man das Mundbild des Arztes nicht sieht – das Abhören der Lunge am Rücken wird damit zu einem Geduldsspiel. Besonders schwierig ist es beim Augenarzt, weil man dort während der Untersuchung nicht von den Lippen ablesen kann. Auch bei Darmspiegelungen ist es nicht so einfach, frontal mit dem Arzt zu sprechen, wenn gefühlte drei Meter Schlauch im Hintern stecken. Bei Operationen muss man die Hörgeräte herausnehmen, bevor es losgeht und ist dem medizinischen Team dann recht hilflos ausgeliefert. Und vor Zahnarztterminen graut es mir nur deshalb, weil ich Menschen, die einen Mundschutz tragen, überhaupt nicht verstehen kann.

Junior I hat eine leichte Halsentzündung und seine Hausärztin ist hocherfreut, dass die Kommunikation mit mir deutlich einfach ist als vorher, wie sie selber sagt. Das ist eigentlich der schönste „Nebeneffekt“ bei der ganzen Sache mit dem Hörimplantat: Alle Menschen, die mir zu tun haben, freuen sich riesig und ich habe das Gefühl, das Implantat überträgt nicht nur elektrische Impulse sondern sondert auch eine Art Glückshormon ab, das meine Gesprächspartner glücklich macht. Tolle Erfindung!

Den überwiegenden Rest des Tages verbringe ich arbeitend und Musik hörend am Computer. Ein schönes Erlebnis habe ich am Abend, als mir die Erstbestehälfte eine Sprachnachricht per WhatsApp verschickt, die ich bis auf ein Wort nach mehrmaligem Hören verstehe:

Dein Vater hat mich angerufen und gefragt, ob Zarah Dir seinen blauen oder schwarzen Anzug gegeben hat. 

Bis auf ’schwarzen‘ habe ich tatsächlich alles verstanden. Ohne Lippen abzulesen.

Abends schaue ich noch etwas Fernsehen und verstehe auch hier immer besser. Auf meinem Fernsehgerät laufen Untertitel immer mit, wenn sie verfügbar sind. Wenn das der Fall ist, schaue ich automatisch hin und lese mit. Das kann ich gar nicht abstellen. Eigentlich wollte ich die Untertitel als zusätzliche Hilfe weiterlaufen lassen und versuchen, das Gesprochene zu verstehen. Das klappt so aber nicht. Ich werde in den nächsten Tagen mal ausprobieren, die Tagesschau ohne Untertitel zu schauen. Zwar verstehe ich dann sicherlich nicht alles, aber für mein Hörtraining scheint das der bessere Weg zu sein.

Tag 19 – Elternabend

Elternabende gehörten bislang nicht zu meinen bevorzugten Hobbies – ebenso wie berufliche Meetings, Darmspiegelungstermine und Vorladungen beim Finanzamt. Wenn mehr als vier Personen quasi unfreiwillig zusammensitzen und kommunizieren geht es oftmals weniger um Inhalte, sondern mehr um das, was Kommunikationswissenschaftler als Beziehungsebene der Kommunikation bezeichnen: Man will seine Position und Rolle gegenüber anderen manifestieren. Das führ dann dazu, dass aus 4 Tagesordnungspunkten, die man eigentlich in jeweils 10 Minuten abhandeln könnte, ein aus psychologischer und soziologischer Sicht hochinteressanter Gesprächsabend wird. Rein hörakustisch ist das weniger interessant; gut ist immerhin, dass ich auch mit Hörgeräten alles mitbekommen habe, weil es mindestens fünf mal von jemand anderem wiederholt wird.

Spaß beiseite: Trotzdem war der Elternabend der Fußballmannschaft von Junior II ein schönes Erlebnis. Ich habe nämlich fast alles fünf mal mitbekommen – und das bei einer Gruppe von etwa 20 Personen, die teilweise sehr weit weg saßen. Ich werde künftig wohl verstärkt auf Elternabende gehen müssen, weil das Argument „ich höre dort nichts“ nicht mehr zieht. Die ErstBesteHälfte freut sich schon auf mehr freie Abende und ich freue mich auch ein bißchen darauf, aktiver am Vereins- und Schulleben meiner Kinder teilnehmen zu können.

Tag 18 – Mails and Drums

Heute habe ich das erste Mal seit der OP wieder gearbeitet – erst einmal im Home-Office, was bei meinem Arbeitgeber problemlos möglich ist.

Nach einer langjährigen Freiberuflichkeit als Digitalkonzepter und Texter arbeite ich seit knapp drei Jahren als User Experience Designer bei SAP und beschäftige mich dort – vereinfacht gesagt – mit der Konzeption von Benutzeroberflächen und der Optimierung der Benutzerführung, damit Software und Apps leicht verständlich sind und gut bedient werden können. In den Teams, in denen ich aktiv bin, arbeiten vor allem Entwickler, deren Aufgabe es ist, die Software zu programmieren und Projektmanager, die sich um die Steuerung der Projekte kümmern. Dementsprechend wird viel besprochen, diskutiert und abgestimmt und Zeit in Meetings verbracht, die wir meistens über Videokonferenz abhalten.

Das ist mit einer Hörschädigung nicht einfach. Ich arbeite schon immer ohne Telefon, weil ich ohne Mundbild bislang so gut wie nichts verstanden habe. Bei Videokonferenzen kann ich bislang nur folgen, wenn Video und Audio verzögerungsfrei und in guter Qualität übertragen werden und man die Sprecher sieht. Wenn Ton und Bild nicht hundertprozentig synchron sind, klappt das Lippenablesen nicht mehr. In Meetings mit größeren Gruppen brauche ich dolmetschende Unterstützung, die normalerweise von Kollegen geleistet wird.

Kommunikation auf Englisch ist für mich ebenfalls schwierig. Zwar schreibe und lese ich fließend Englisch, aber es ist schwierig, eine Fremdsprache zu sprechen, wenn man nicht selber genau hört, wie die verschiedenen Worte korrekt ausgesprochen werden. Mein gesprochenes Englisch hat deshalb einen etwas stärkeren deutschen Akzent als üblich. Trotzdem werde ich eigentlich gut verstanden – außer in den Niederlanden, warum auch immer. Das Verstehen von gesprochenem Englisch ist ebenfalls schwierig. Denn wenn man nicht weiß, wie ein Wort genau ausgesprochen wird oder eine falsche Vorstellung davon hat, versteht man es im Gespräch nicht mehr gut.

Ich kompensiere diese Nachteile durch den Einsatz von E-Mails, auf die ich sehr schnell antworte und Chatprogrammen wie z.B. Slack. Wenn ich im Büro bin gehe ich ins nächste Zimmer, anstatt den Telefonhörer in die Hand zu nehmen. Ich frage häufiger zurück, ob dies oder jenes korrekt verstanden wurde und gebe gerne kurze Zusammenfassungen des Verstandenen,  damit mein Gegenüber weiß, dass ich auf dem richtigen Gleis bin. Bei Meetings lege ich darauf Wert, dass Protokolle angefertigt werden. Überflüssige Meetings versuche ich nach Möglichkeit zu vermeiden. Und habe damit mehr Zeit zum Arbeiten.

Bislang hat das bei allen Stationen in meiner beruflichen Karriere sehr gut geklappt. Ich habe für Großunternehmen und mittelständige Firmen gearbeitet; für große Digitalagenturen und Start-Ups. Fast überall hatte ich das Glück, sehr hilfsbereite Kollegen zu haben, die viel Rücksicht auf mich genommen haben und wussten, dass sie sich trotz der schwierigen Kommunikation darauf verlassen können, dass ich gute Arbeit abliefere. Das funktioniert nur, wenn man offen mit seiner Hörbehinderung umgeht, aktiv auf die Mitmenschen zugeht, die Angst vor Rückfragen nimmt und vor allem auch in kritischen Situationen seinen Humor bewahrt. Manchmal ist es einfach komisch, wenn ich etwas völlig falsch verstehe und es dann ist es auch okay, über die Situation zu lachen.

Heute habe ich vor allem E-Mails abgearbeitet und quasi testweise an einem für mich nicht wirklich wichtigen Meeting teilgenommen, bei dem ich aber noch nicht genug verstehen konnte. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg und ob ich überhaupt irgendwann reinen Telefonkonferenzen folgen kann, weiß ich nicht. Das ist allerdings auch kein Ziel, das ich mir gesetzt habe. Wenn ich in der Lage sein werde, Videokonferenzen gut folgen zu können und vielleicht auch einfachere Telefonate mit Kollegen führen kann, bin ich mehr als zufrieden. Alles weitere ist ein Bonus.

Am Abend hatte ich dann die erste Schlagzeugstunde mit Implantat. Seit zwei Jahren spiele ich aktiv Schlagzeug und habe alle zwei Wochen Unterricht – und habe sehr viel Spaß daran (siehe auch Tag 8 – Drums & Honors). Die heutige Session war ein voller Erfolg – obwohl ich die letzten 5 Wochen Urlaubsbedingt und auch wegen der Implantat-Operation kaum gespielt habe. Ich weiß mittlerweile, mit welcher Einstellung der Soundprozessor beim Drummen am besten fährt: Lautstärke etwa 1/3 reduziert und Geräuschempfindlichkeit soweit heruntergedämpft wie möglich. Mit dieser Einstellung kann ich meinem Schlagzeuglehrer deutlich besser beim gemeinsamen Spielen folgen. Ich höre mittlerweile auch, wenn Schläge nicht völlig synchron sind – wie zum Beispiel Bassdrum und Hi-Hat. Ich höre, welches Becken gespielt wird – das war mit Hörgeräten nur ein Scheppern, egal was ich angeschlagen habe. Ich höre, ob das Hi-Hat offen oder geschlossen ist. Und als wir mit einem neuen Song beginnen – Sunday Bloody Sunday von U2 – stelle ich beim Hören des Songs über die Soundanlage fest, dass ich heraushöre, welches Becken gespielt wird. Es ist damit viel einfacher, Songs nachzuspielen und das Drummen macht insgesamt deutlich mehr Spaß.

Was ich bei der Erstanpassung in zwei Wochen unbedingt erfragen muss ist, ob ich meine Ohren mit dem Implantat überfordern kann. Können zu laute Töne die Hörnerven schädigen? Ist zu laute Musik mit Implantat schädlich? Wie merke ich, dass es zu laut wird? Kann dauerhaftes Schlagzeugspielen den Hörnerv überfordern? Mein Mittelohr ist ja ausgeschaltet und ich habe kein normales Hörempfinden mehr – auch wenn sich mit Implantat alles viel normaler anhört, als es mit dem Hörgerät der Fall war.

Es gibt noch viel zu lernen, zu entdecken, und zu hören. Ich freue mich drauf!

Tag 17 – Copilot

Nach einer kurzen Nachtruhe ging es heute zurück nach Hause. Auf dem Heimweg brachte ich noch eine Freundin meines Gastgebers nach Hause, die auf meiner Rückreiseroute wohnt  – und wir konnten uns fast die ganze Strecke gut unterhalten.

Unterhaltungen im Auto sind für mich und auch viele andere hörgeschädigte Menschen eine echte Herausforderung – egal ob man selber fährt oder Beifahrer ist. Einerseits wegen der Umgebungsgeräusche, die Kommunikation schwierig machen, weil Hörgeräte nicht halbwegs so gut in der Lage sind wie das menschliche Ohr, all das herunter zu pegeln, was  man nicht hören will. Andererseits deshalb, weil ich von den Lippen ablesen muss. Das bedeutet, dass man als Fahrer den Beifahrer anschauen muss, wenn er spricht. Für die Verkehrssicherheit ist dies suboptimal – und damit auch für den Blutdruck der Person auf dem Beifahrersitz, die natürlich nervös wird, wenn der Fahrer nicht nach vorne schaut. Und dann selber nach vorne schaut, weil die meisten Menschen gerne kurz vorher wissen möchten, wann und wie sie sterben. Der Fahrer versteht in diesem Moment noch weniger, weil das Mundbild nicht frontal sichtbar ist und so wird die gesamte Kommunikation zu einem echten Nervenkitzel.

Wenn die Rollen vertauscht sind, ist es etwas einfacher, aber das Problem besteht dann umgekehrt: Die fahrende Person weiß, dass sie mich als Beifahrer anschauen muss, damit ich verstehe. Ich werde natürlich auch nervös, wenn die Person am Lenkrad nicht nach vorne schaut, weil die meisten Menschen auch nicht gewöhnt sind, sich mit hörgeschädigten Personen im Fahrzeug zu unterhalten. Und auch ich möchte ganz gern wissen, wann der Airbag auslöst – und schaue deshalb selbst nach vorne und verstehe nichts mehr. Das Ganze ist ein bißchen wie dieses Spiel ‚Wer traut sich zuerst, wegzugucken‘. Entspanntes Unterhalten ist dabei nur schwer möglich.

Meine Freunde kennen diese Situation und sind es gewöhnt, Unterhaltungen im Auto auf ein Minimum zu reduzieren. Das ist sehr ungewohnt. Vor allem die Anhalter und Mitfahrer, die ich in den 90er Jahren oft über Mitfahrzentralen mitgenommen habe, waren häufig verunsichert, weil ich einfach nur gefahren bin und kein Interesse an Small Talk zeigte. Man denkt in so einer Situation als Anhalter vermutlich an amerikanische Horrorfilme, in denen Serienmörder und Psychopathen Anhalter einsammeln und dann wortlos in ein leer stehendes Gebäude chauffieren. Ich habe es nach Möglichkeit vermieden, die Leute durch irres Grinsen oder Gekicher noch mehr zu verunsichern und darüber aufgeklärt, dass wir uns entweder unterhalten oder dass sie sicher ans Ziel kommen. Die meisten fanden die letzte Option attraktiver. Die wenigen Fälle, die einfach nicht in der Lage sind, in Gesellschaft einfach mal 2 Stunden den Rand zu halten, wurden spätestens dann still, nachdem ich sie (natürlich auf freier Autobahnstrecke) etwa 10 Sekunden intensiv angeschaute und dabei beschleunigte. Im Angesicht des Todes werden auch notorische Dauerredner auf einmal ganz still.

Um meine Leser nicht nervös zu machen: Ich habe in 32 Jahren Autofahren mit Fahrleistungen von bis zu 50.000 km pro Jahr noch keinen ernsten Unfall gehabt – lediglich zwei Motorradunfälle, die nichts mit einem beeinträchtigten Gehör, zu tun hatten. Denn im Zweifelsfall war mir mein Leben und das meiner Passagiere immer wichtiger als zu verstehen, warum Freundin 1 zu Freundin 2 gesagt hat, dass Freundin 3 Freundin 4 nicht mehr mag, weil Freundin 5 gesehen hat, dass Freundin 3 zusammen mit Freundin 6 über Freundin 5 gelästert hat.

Und: wenn ein Sinnesorgan dauerhaft beeinträchtigt ist und seine Aufgaben nicht mehr ordentlich wahrnehmen kann, übernehmen andere Sinnesorgane einen Teil dieser Arbeit. In meinem Fall heißt das, dass meine Augen etwas leistungsfähiger sind. Ich schaue zwar nicht schärfer oder weiter und kann leider auch nicht durch Kleidung hindurchschauen, aber ich habe ein etwas breiteres Blickfeld als die meisten nicht hörgeschädigten Menschen und nehme deshalb im Verkehr schneller wahr, wenn jemand von rechts oder links kommt. Ich hatte deshalb auch lange die Auflage im Führerschein, dass ich nur Fahrzeuge mit rechtem Außenspiegel fahren darf, um meine Beeinträchtigung auszugleichen. Denn bis in die 90er Jahre waren rechte Außenspiegel bei vielen Fahrzeugen tatsächlich eine Sonderausstattung.

Interessanterweise ist auch mein Geruchsorgan sehr sensitiv. Ich wache schnell auf, wenn Rauch oder Essengerüche ins Schlafzimmer ziehen und habe ein außerordentliches olfaktorisches Gedächnis. Das hilft im Verkehr aber nicht wirklich – wenn ich den Brandgeruch wahrnehme, ist es zum Bremsen vermutlich zu spät.

Jedenfalls: Der Blutdruck meiner Beifahrerin bleibt während der etwa einstündigen Fahrt im grünen Bereich. Wir können uns gut unterhalten und ich muss zwar immer noch ab und zu auf ihren Mund schauen oder das Gespräch pausieren lassen, wenn der Verkehr meine volle Aufmerksamkeit erfordert, aber im Vergleich zu meiner Zeit mit Hörgeräten ist das deutlich komfortabler. Und ich freue mich auf den Tag, an dem ich die Blicke zur Seite gar nicht mehr brauche.

Nachdem mein Fahrgast zu Hause abgeliefert ist, besuche ich noch kurz meine Mutter, die in der Nähe wohnt und sich wahnsinnig darüber freut, dass ihr Sohnemann wieder besser hören kann. Für Eltern ist eine Krankheit oder Behinderung eines Kindes meistens viel schlimmer als für einen selbst. Ich hatte während meiner Pubertät natürlich schwer mit dem immer schlechter werdenden Gehör zu kämpfen und es gab immer wieder Momente, wo ich meine Ohren verflucht habe. Aber man muss irgendwann lernen, mit seinem Handicap umzugehen und nicht mehr ständig darüber nachzudenken. Es ist ein Teil eines selbst und man muss es akzeptieren anstatt dagegen zu kämpfen – sonst geht man unter.

Für viele Eltern ist es viel schwieriger damit klarzukommen, wenn das eigene Kind eine Krankheit oder Behinderung hat – denn man möchte natürlich, dass es den Menschen besonders gut geht, die man am meisten liebt, dass sie ‚gesund‘ sind und wenig Probleme haben. Meine Eltern haben lange gegen meine Schwerhörigkeit gekämpft und ich bin jahrelang auf einer medizinischen Odyssee unterwegs gewesen: HNO-Ärzte, Neurologen, Psychologen, Homöopathen, Heilpraktiker, Wunderheiler: Es wurde alles versucht und nichts unversucht gelassen. Jeder mögliche Strohhalm wurde ergriffen, um gegen das schlechte Hören zu kämpfen. Ich hatte irgendwann genug davon, weil es mir wichtiger war, mit der Hörbeeinträchtigung klar zu kommen, als erfolglos dagegen zu kämpfen. Und habe dann nicht mehr auf meine Copiloten gehört, sondern auf mich selbst.

Letztendlich kann man auch mit schlechtem oder gar keinem Gehör ein tolles und erfülltes Leben führen – oder ohne Augen oder Beine oder mit anderen Krankheiten oder Behinderungen. Wichtig ist, dass man sich selbst akzeptiert – mit allen Beeinträchtigungen. Und versucht, das Beste draus zu machen. Ich wäre ohne meine Hörschädigung vermutlich ein ganz anderer Mensch geworden; sie ist ein wichtiger Teil von mir, der mich geprägt hat und durch den ich viel gelernt habe. Und das ist gut so.

Tag 16 – Völlig losgelöst

Heute war ich zur 50. Geburtstagsparty eines Schulfreundes im Ruhrgebiet eingeladen. Vorher standen noch Fußballspiele von Junior II und Junior I auf dem Programm. Wie auch schon am letzten Wochenende konnte ich hier einige nette Ballgespräche mit den Fußballeltern führen, nachdem ich mir eine Mütze aufsetzte, weil recht starker Wind war und die Windgeräusche in den Mikrophonen des Soundprozessors doch recht laut waren. Ich mag Wind sehr gerne. Beim Hören mit Hörgerät oder mit Implantat-Soundprozessor kann er allerdings sehr stören. Leider gibt es keine Wuschelmikrophone für Hörgeräte. Haare können diese womöglich ersetzen – und sehen bei den meisten Menschen auch etwas besser aus. Als erblich bedingter Vollglatzenträger ist man hier deutlich im Nachteil.

Am Nachmittag fuhr ich dann los und genoß drei Stunden lang den hervorragenden Sound meiner Canton-Soundanlage in Verbindung mit meinem Hörimplantat. Ein schöner Nebeneffekt des elektronischen Hörens: Staus stören mich nicht mehr wirklich. Ich kann dann nämlich länger Musik hören.

Die Party selbst war ein wundervoller Abend und Erfolg. Ich traf einige Freunde aus meiner Schulzeit wieder, die ich viel zu lange nicht gesehen hatte und ein paar ehemalige Lehrer. Und lernte ein paar sehr sympathische neue Menschen kennen.

Ich bin eigentlich ein geselliger Mensch, aber das eingeschränkte Hören führte im Lauf der Jahre dazu, dass ich eher ungern auf Parties gegangen bin, weil ich einfach kaum etwas verstanden habe und mich nicht wirklich gut unterhalten konnte. Parties sind für Hörgeräte ein Worst Case, weil im Normalfall viele Menschen auf recht engem Raum durcheinander sprechen und das Hörgerät im Gegensatz zu einem gesunden menschlichen Ohr die unwichtigen Sprachgeräusche nicht dämpfen kann. Außerdem wechseln die Themen und Gesprächspartner häufig und meistens läuft Musik, was das Zuhören zur Schwerstarbeit macht. Ich brauche dementsprechend viele Hörpause und halte selten länger als ein paar Stunden durch.

Heute Abend habe ich mich von 7 Uhr Abends bis 4 Uhr morgens durchgehend unterhalten und viele anregende und lustige Gespräche geführt – selbst beim schlechtem Licht und bei Gesprächspartnern mit Akzent. Spät am Abend war die Konzentration dann zwar etwas schwächer, aber ingesamt habe ich mich noch nie so lange so gut unterhalten.

Und dazwischen habe ich das erste Mal seit vielleicht 30 Jahren wieder getanzt. Ich war während meiner Oberstufen- und Studienzeit sehr häufig in Clubs und Diskotheken im Ruhrgebiet unterwegs. Mittwochs ging es in Siggi’s Kalei in Essen – einen kleinen Indie-Club, in dem meine Liebe zu Goth-Musik und EBM entstand, die bis heute angehalten hat. Freitags ins Old Daddy in Duisburg. Samstags in die Zeche Bochum, ins Raskolnikov in Oberhausen oder ins Intershop im Bochumer Bermuda-Dreieck. Ich kannte so ziemlich jede Indie-Disco im Ruhrgebiet und stand oft Stunden auf der Tanzfläche, um den Alltagsstress abzuschütteln. Während meiner Internatszeit absolvierte ich sogar einen Tanzkurs, was viel Spaß gemacht hat. Besonders beim Jive hatten ich und meine damalige Tanzpartnerin Daniela viel Spaß und wollten gar nicht mehr aufhören.

In den letzten 25 Jahren habe ich kaum noch getanzt. Wenn man die Musik nur rudimentär hört, die Songs nicht erkennt und sich voll darauf konzentrieren muss, den Takt wahrzunehmen, kann man nicht loslassen und das Tanzen genießen. Meistens habe ich mir andere Personen auf der Tanzfläche ausgesucht, die sich gut bewegt haben und mir quasi als visuelles Metronom dienten, damit ich nicht komplett verloren bin.

Heute Abend habe ich das erste Mal seit vielleicht 25 Jahren Musik gehört und dazu getanzt – im Takt, ohne Konzentration, ohne visuelles Metronom und ohne Frustration. Völlig frei und völlig losgelöst – ein unbeschreiblich wundervoller und befreiender Moment, der in der Top 5 Liste meiner Hörimplantat-Erlebnisse einen Stammplatz haben wird. Wer mich demnächst auf Parties sucht: Ich stehe nicht mehr am Biertresen, sondern bin mittendrin. Nur wenn Helene Fischer gespielt wird, bleibt wahrscheinlich alles beim Alten.

Tag 15 – Soundcheck

Ich bin immer gern auf Konzerte gegangen. Nicht nur, weil ich Musik liebe, sondern ich liebe auch die Konzert- und Festival-Atmosphäre, den typischen Geruch kleinerer Clubs, den vibrierenden Boden und die Lightshow. Letztes Jahr habe ich unter anderem Linkin Park, Green Day und Blink-182 auf dem Hurricane-Festival in Scheeßel live gesehen und insbesondere dieses letzte Konzert von Linkin Park in Deutschland war ein unbeschreibliches Erlebnis. AC/DC im Olypiastadion Berlin vor 3 Jahren war ebenfalls unvergesslich. Generell gehe ich lieber in kleinere Clubs als in Stadien, zumal auch die Konzertpreise immer weiter steigen. Und bislang war mein Hörerlebnis auf Konzerten nicht gut genug, um eine Ausgabe im dreistelligen Euro-Bereich zu rechtfertigen.

Auf Live-Konzerten war mein Hörerlebnis trotz der hohen Lautstärke bislang sehr eingeschränkt. Denn Schwerhörigkeit ist deutlich komplexer als fehlende Lautstärke. Schwerhörigkeit bedeutet nicht unbedingt, dass man zu leise hört, sondern in den meisten Fällen auch, dass man schlecht hört. Bei mir ist, stark vereinfacht gesagt, die Verbindung zum Hörnerv kaputt. Der Hörnerv endet in der Schnecke im Innenohr; der Schall wird über sogenannte Haarzellen auf den Hörnerv übertragen – je nach Frequenz weiter vorne oder hinten. Man kann sich das wie ein Kornfeld vorstellen, dessen Halme durch Wind in unterschiedlichen Stärken bewegt werden. Bei mir ist dieses Kornfeld weitgehend abgemäht und es werden deshalb nicht alle Signale an den Hörnerv übertragen, sondern nur vereinzelte.

Ich höre mit Hörgeräten recht viel, weil die Hörgeräte aus dem Wind einen Orkan machen, der auch Kornhalme bewegen kann, die fast abgemäht sind, aber ich höre nicht alle Frequenzen, weil viele Kornhalme nicht mehr vorhanden sind. Ich höre mit Hörgeräten zum Beispiel kaum Konsonanten (m und n noch am besten, S, K oder F hingegen gar nicht) und keine hohen Töne mehr. Hörgeräte können auch nicht wirklich gut filtern – das menschliche Ohr ist in der Lage, den Sprecher, dem man zuhört, lauter und die Umgebungsgeräusche leiser zu machen. Das Hörgerät kann dies nur sehr bedingt und dann gar nicht, wenn mehrere Leute sprechen – wie zum Beispiel im Restaurant oder auf einer Party. Denn es weiß nicht, welche Stimme diejenige ist, die verstanden werden soll.

Im Vergleich zum menschlichen Ohr als unbezahlbare High-End-Soundanlage ist ein Hörgerät auf meinen Ohren ein mp3-Player vom Restemarkt mit Kopfhörern für 99 Cent. Der Sound wird nicht besser, wenn man voll auf Anschlag geht. Und dementsprechend hört sich auch Musik mit Hörgeräten für mich bescheiden an – selbst auf Live-Konzerten mit mehr als ausreichender Lautstärke. Dafür bezahle ich ungern 100 Euro, denn letztendlich ist die Enttäuschung über das Schlecht-Gehörte einfach zu groß.

An dieser Stelle eine wichtige Relativierung: Hörgeräte sind nicht per se schlecht. Menschen, die nur leicht oder mittel schwerhörig sind, können mit modernen Hörgeräten ein fantastisches Hörerlebnis haben. Ein Cochlea-Implantat ist nicht in jedem Fall besser als ein Hörgerät. Bei leichter oder mittlerer Schwerhörigkeit oder auch dann, wenn zum Beispiel noch alle Haarzellen vorhanden sind, aber der akustische Wind zu schwach ist, können Hörgeräte hervorragende Hörerlebnisse ermöglichen. 

Ich habe mich heute auf mein erstes Live-Konzert gewagt. Für U2 habe ich leider keine Karten bekommen und die Rolling Stones sind derzeit nicht in Deutschland auf Tour, als ging es zum Oldieabend der Westerescher Maisfeldfete, die im zweijährigen Turnus von der hiesigen Landjugend organisiert wird und an zwei Tagen mittlerweile über 4.000 Besucher aus Scheeßel und umzu anzieht.

Vorher ging es zum Vorglühen zu Freunden und auch hier habe ich wieder einmal gemerkt, wieviel besser ich mit dem Cochlea-Implantat verstehe. Ich konnte mich gut mit meinen Sitznachbarn unterhalten und verstand Einiges der quer über den Tisch laufenden Gespräche und Witzeleien. Ohne Lippen-Ablesen ist es nach wie vor schwierig, aber immerhin trage ich das Implantat erst 15 Tage und ich bin nach wie vor glücklich über jeden kleinen und großen Erfolg. Alles Weitere wird sich einfach zeigen.

Dann ging es ins Musikzelt, in dem eine 13-köpfige Band aus der Region das Publikum mit bekannten Oldies unterhielt. Zwar habe ich die meisten Songs nicht erkannt, da ich auch nicht viele Oldies höre und kenne – die Songs aus meiner Jugendzeit in den 80er und beginnenden 90er Jahren mal ausgenommen. Ältere Musik hört man eigentlich erst ab einem reiferen Alter und in diesem war es mir wegen meiner schlechten Ohren nicht mehr möglich, bislang unbekannte Musik zu entdecken und wertzuschätzen. Der Sound war allerdings prima, ich konnte alle Instrumente und den Gesang gut hören und ich freue mich jetzt riesig auf das erste richtige Konzert einer Band, die ich mag – allerdings erst nach dem Feintuning des Soundprozessors und vielleicht auch erst nachdem das zweite Implantat an Bord ist.

Tag 14 – Soul

Nach dem vollen gestrigen Tag war heute wieder Erholungsmodus angesagt: Schlafen, schreiben, Musik hören. Als mich die traurige Nachricht vom Tode der großartigen Aretha Franklin erreichte, habe ich natürlich direkt Spotify angeschmissen und mir viele ihrer Songs angehört. Soul klingt mit Cochlea-Implantat prima, weil es einerseits eine sehr gesangsbetonte Musikrichtung ist (im Gegensatz zu Death Metal oder der Hintergrundmusik in Pornofilmen). Der Soundprozessor ist natürlich vor allem für das Verstehen von Sprache programmiert und kommt deshalb besonders gut mit gut hörbarem Gesang klar. Außerdem ist diese Musikrichtig relativ ruhig und nicht überinstrumentalisiert – zwar kommen viele unterschiedliche Instrumente zum Einsatz, die ich mittlerweile auch ganz gut heraushören kann, aber selten alle zusammen auf Anschlag. Genereller Tipp für CI-Träger: Nicht mit Speed Metal anfangen, das ist schwierig. Soul ist definitiv ein besserer Start.

Beim Musikhören versuche ich herauszufinden, ob ich mit dem Cochlea-Implantat das Timbre von Aretha Franklins Stimme überhaupt heraushören kann. Auf Anhieb klappt das nicht. Im Duett mit Annie Lennox bei Sisters are doing it for themselves kann ich allerdings recht schnell die beiden Stimmen unterscheiden und höre, wer von beiden singt. Nach ein paar Songs hat sich der Soundprozessor dann besser an Aretha Franklins Stimme gewöhnt und sie klingt fast genauso, wie ich sie von früher in Erinnerung habe. Mit einem gesunden Ohr hört sich das natürlich viel besser an und ich weiß nicht, ob ich auch mit Cochlea-Implantat jemals in der Lage sein werde, solche stimmliche Feinheiten herauszuhören, die dazu führen, dass man beim Hören eine Gänsehaut bekommt. Das wäre natürlich ein Bonus. Genießen kann ich Musik schon jetzt besser, als ich jemals gedacht habe.

Ich werde momentan oft gefragt, ob ich es bereue, dass ich die Operation nicht früher gemacht habe. Das ist eine schwierige Frage. Natürlich – wenn ich vor 10 Jahren gewußt hätte, dass es so gut klappt, hätte ich es auf jeden Fall gemacht. Wenn die Operationstechnik vor 10 Jahren so weit gewesen wäre, dass die Operation so schnell über die Bühne geht, hätte ich es auf jeden Fall gemacht. Wenn die Soundprozessoren damals so gut gewesen wären, dass ich auf Anhieb so gut gehört hätte wie jetzt, hätte ich es auf jeden Fall gemacht. Aber ich war damals einfach noch nicht soweit. Auch wenn das Leben mit einer schweren Hörbehinderung nicht einfach ist, war ich daran gewöhnt und habe versucht, das Beste draus zu machen. Und das hat sehr gut geklappt – beruflich als auch privat. Mein Leidensdruck war vor 10 Jahren einfach noch nicht so groß und als Freiberufler wäre es auch finanziell schwierig gewesen, über einen längeren Zeitraum auszufallen. Außerdem hatte ich einfach Angst. Wenn einem als Kind bei einer Mandeloperation die Ohren versaut werden ist es nicht so einfach, sich wieder ins Krankenhaus zu bewegen und an sich herum schrauben zu lassen – so etwas bleibt hängen. Und dann kämpft der Kopf gegen den Bauch und der Verstand gegen die Seele.

In diesem Sommer war der Zeitpunkt jetzt einfach da – nach vielen Recherchen und Gesprächen und Grübeleien. Ich denke zwar manchmal daran, wie viel mehr ich im Job und zu Hause mitbekommen hätte, wenn ich schon vor 10 Jahren so „gut“ gehört hätte wie jetzt – vor allem was das Aufwachsen der eigenen Kinder betrifft. Man verpasst ja doch so einiges bei ihrer sprachlichen Sozialisation wie z.B. amüsante Wortschöpfungen oder philosophische Weisheiten aus Kindermund. Vieles habe ich von meiner ErstBestenHälfte übersetzt bekommen; live ist es natürlich besser. Trotzdem ist diese Entscheidung für mich zum richtigen Zeitpunkt gefallen und es ist müßig darüber nachzudenken, was gewesen wäre, wenn ich schon vor 5 oder 10 oder 15 Jahren diesen Schritt gewagt hätte. Ich habe es jetzt getan und funktioniert hervorragend. Und ich freue mich auf die Zukunft mit Cochlea-Implantat. Das ist das Einzige, was zählt.

Tag 13 – Service & Smalltalk

Heute stand eine echte Hörfeuerprobe auf dem Programm. Ich bin früh nach Hamburg gefahren, um beim Reifenservice neue Reifen auf meinen Firmenwagen aufziehen zu lassen. Anschließend stand ein Ölwechsel-Termin bei Skoda an und bis zur Abholung wollte ich ein paar Arbeitskollegen in Hamburg treffen.

Auf dem Weg nach Hamburg höre ich erst Musik, dann springt eine Verkehrsdurchsage an. Ich verstehe etwa die Hälfte und schalte die Nachrichten ein. Hier verstehe ich zwar etwas weniger, aber einzelne Sätze und Wörter kommen schon gut an. Verkehrsdurchsagen folgen einem recht einfachen syntaktischen Muster und ich kann gut erahnen, was gesagt wird:

Auf der [Name der Autobahn] [n] Kilometer [Stau/zähflüssiger Verkehr] wegen [einer Baustelle/eines Unfalls]

Das ist einfach. Nachrichten sind schwieriger, weil hier alles möglich ist – vor allem seit Donald Trump Präsident der USA ist – eine Meldung wie

Donald Trump beriet sich heute mit Paris Hilton über die Farbgestaltung der Schutzmauer, welche die US-Amerikanische Space-Force zwischen Erde und Mond errichten will. Die Finanzierung soll durch das galaktische Imperium erfolgen

kann man auch mit Top-Implantaten nur schwer verstehen (siehe auch Tag 5 – Traumdeutung). Ich kann aber zumindest einigen tagesaktuellen Meldungen gut folgen, z.B. als es über den tragischen Brückeneinsturz in Genua geht.

Service-Termine, wo auch immer, sind für normalhörende Menschen eigentlich keine besondere Herausforderung – deutsche Amtsstuben mal ausgenommen. Mit einer Hörschädigung kann so etwas schnell sehr anstrengend werden. Denn die Gesprächspartner kennen mich nicht und sind nicht auf Kommunikation mit einer hörbehinderten Person eingestellt. Einige sprechen undeutlich oder haben ein schlechtes Mundbild; oftmals gibt es laute Hintergrundgeräusche und Rückfragen, die man verstehen muss und nicht kombinieren kann – wie zum Beispiel die Frage nach alternativen Reifengrößen oder Herstellern oder technische Erläuterungen. Ich gehe damit locker um und bin bislang überall lebend wieder herausgekommen. Es ist halt nur manchmal recht anstrengend.

Beim Reifenservice verstehe ich alles. Nichts muss wiederholt werden. Auch bei der Abgabe meines Fahrzeugs in der Werkstatt eine halbe Stunde später komme ich mit nur einer Wiederholung aus – bei drei verschiedenen Gesprächspartnern (Empfang, Service-Mitarbeiter, Ersatzwagen-Herausgabe). Das ist ein Spitzenwert – mit Hörgeräten hätte ich hier an jeder Station mindestens 3-4 mal nachfragen müssen. Nach der Abgabe meines Fahrzeuges traue ich mir noch ein Beratungsgespräch zu einem Hybridfahrzeug zu, weil mich Elektromobilität sehr interessiert. Auch das ist ein begeisterndes Erlebnis, denn ich verstehe fast jedes Wort – auch bei einer kurzen Probefahrt durch Hamburg. Verbale Kommunikation macht mir allmählich richtig Spaß.

Später treffe ich einen Freund und früheren Arbeitskollegen zum Kaffee, den ich lange nicht gesehen habe. Maik gehört zu der Sorte von Menschen, die eine fantastische Artikulation haben und für hörgeschädigte Menschen hervorragend zu verstehen sind. Wir unterhalten uns etwa eine Stunde draußen in der Hamburger City und trotz des Umgebungslärms verstehe ich ausgezeichnet und muss eigentlich gar nicht mehr kombinieren. Und das mit einem elektrischen Ohr nach 13 Tagen anstatt zweier Hörgeräte, an die ich 40 Jahre lang gewöhnt war. Und der Kaffee, ein portugiesischer Galao, war auch lecker.

Anschließend geht es zum nächsten Kaffee mit einem weiteren alten Freund und Arbeitskollegen, der nicht nur ein schlechtes Mundbild hat, sondern auch einen leichten englischen Akzent – ein echter akustischer Worst Case für hörgeschädigte Menschen. Wir kennen uns schon sehr lange und ich habe David schon immer schlecht verstanden – er schätzt etwa 50%, ich würde eher auf 30% tippen. Der Rest war Kombination, Wiederholungen und im Notfall: Aufschreiben. Oder einfach mal die Fresse halten und den Kaffee genießen. Davon kann heute keine Rede sein – ich verstehe auch hier fast jedes Wort. In etwa 45 Minuten Unterhaltung sind vielleicht zwei oder drei Wiederholungen notwendig. Das ist ein Riesenerfolg und wir beide freuen uns sehr darüber und auf die nächsten gemeinsamen Kaffeepausen  – dann vielleicht sogar auf Englisch.

Im Normalfall bräuchte ich nach zwei solchen Gesprächen erst einmal eine lange Hörpause, weil ich mich mit Hörgeräten 100% konzentrieren muss. Für mich gab es bislang keine lockeren Unterhaltungen – jede Kommunikation war Schwerstarbeit. Ich vergleiche dies gern mit dem Zuhören einer fremden Sprache, die man nicht flüssig beherrscht. Man versteht einzelne Wörter und auch worum es geht, muss aber recht viele Vokabel- und Verständnislücken durch Kombination vervollständigen. Das ist anstrengend. Small Talk kenne ich nicht – für mich war bislang jede Gesprächssituation Hard Talk. Das wird jetzt deutlich einfacher.

Also treffe ich anschließend noch einen Freund und Arbeitskollegen und wir gehen gemeinsam eine Kleinigkeit essen. Auch Patrick gehört nicht zur Sorte der Top-Artikulierer, aber auch ihn verstehe ich deutlich besser als vorher. Im Restaurant komme ich ein wenig an meine Grenzen, weil die ganze Zeit lautes Geschirr- und Besteckgeklapper im Hintergrund zu hören ist und muss ein wenig häufiger nachfragen als bei den beiden vorherigen Gesprächen, aber insgesamt ist auch dieses Essen ein schöner Erfolg. Draußen auf der Straße verstehe ich wieder deutlich besser – den Straßenlärm dämpft der Soundprozessor deutlich besser als Küchengeräusche. Ich hoffe, dass man dies bei der Erstanpassung in den Griff bekommt.

Besonders schön ist, dass mir immer mehr Menschen sagen, dass ich deutlicher spreche, seit ich das Cochlea-Implantat habe. Der einfache Grund dafür ist, dass ich mit Implantat Konsonanten höre. Mit Hörgeräten habe ich zwar M und N noch wahrgenommen, aber kein S oder SCH oder CH oder K – auch nicht, wenn ich selbst gesprochen habe. Ich höre mich selbst viel besser sprechen und gebe mir deshalb auch mehr Mühe, deutlich zu reden.

Die anschließende Fahrzeugabholung  beim V.A.G.-Servicebetrieb läuft problemlos – abgesehen davon, dass es trotz Termins mal wieder nicht geschafft wurde, einen Ölwechsel innerhalb von 8 Stunden durchzuführen. Sorry, Jungs: Euer Laden arbeitet so gut wie mein Ohr hört. Ohne Implantat.  Ich führe deshalb ein längeres, energisches und verärgerter Gespräch am Empfangstresen, verstehe auch hier jedes Wort, freue mich sehr, mache ein böse Gesicht und fahre nach Hause.

Dort angekommen geht es erst einmal zum Entspannen auf die Couch und der Soundprozessor bekommt eine Pause. Erst nachts um eins wache ich wieder auf – der Tag war wunderbar, aber dennoch sehr, sehr anstrengend.

Tag 12 – Timeout

Heute habe ich nichts gemacht. Nada. Niente. Zero. Ich brauchte nach den Aufregungen der ganzen letzten Tage einfach mal ein Timeout. Wenn man ein Cochlea-Implantat bekommt ist es wichtig, auf sich selber zu hören und einfach mal einen Gang herunter zu schalten, wenn der Sprit alle ist. Ein paar Dinge gibt es trotzdem zu erwähnen, denn ganz ohne Musik geht es mit Implantat nicht mehr:

Schlagzeug spielen geht immer besser. Ich habe ein bisschen mit der Fernbedienung experimentiert, den Soundprozessor leise gestellt und die Geräuschempfindlichkeit soweit wie möglich herunter geregelt. Mit dieser Einstellung hört sich das Schlagzeug richtig gut an. Ich kann sogar erste Songs zur Musik spielen, wenn ich das Smartphone an die Aktivbox anschließe und voll auf Anschlag gehe. Mit Rücksicht auf die Nachbarn werde ich nicht weiter exzessiv daran arbeiten sondern warten, bis ich nach der Erstanpassung die Umgebungsgeräusche des Soundprozessors stumm stellen kann, wenn ein Audiokabel angeschlossen ist.

Am Klavier habe ich ein wenig mit meiner Stimme experimentiert und versucht, Töne zu treffen. Das klappt halbwegs gut. Als Kind habe ich gerne und viel gesungen und auch als Teenager gerne am Klavier Pop-Balladen gespielt und dazu gesungen. Zwar ist meine Stimme nach knapp 40 Jahren mit Hörgeräten ziemlich eingerostet und ich treffe nicht jeden Ton, aber ich höre, wenn meine Stimme nicht zur angeschlagenen Klaviernote passt. Das war mit Hörgeräten nicht möglich. Vor ca. neun Jahren habe ich im Rahmen meines Westerwave-Comedyprojektes in einem Tonstudio versucht, einen Westerwave-Song einzuspielen. Das klappte gar nicht; ich war nicht in der Lage, die Töne auch nur halbwegs zu treffen. Ein Pavarotti wird aus mir auch mit Implantaten nie werden, aber es ist ein tolles Gefühl zu wissen, dass ich mich vielleicht schon bald wieder am Klavier gesanglich begleiten kann.