Monat: September 2018

Tag 33 – Erstanpassung

Heute geht es im Deutschen Hörzentrum Hannover zur Erstanpassung meines Soundprozessors. Das Hörzentrum liegt direkt neben der Medizinischen Hochschule Hannover, in der ich implantiert worden bin und arbeitet eng mit der dortigen HNO-Abteilung zusammen.

Der Begriff Erstanpassung ist etwas verwirrend, weil mein Soundprozessor bereits drei Tage nach der Operation angepasst und eingeschaltet wurde. Dieses Aktivieren direkt nach der Implantation ist relativ neu; bis vor kurzem wurde der Soundprozessor erst 2-4 Wochen nach der Operation eingeschaltet. Da die Operationstechnik mittlerweile so weit fortgeschritten ist, dass die OP-Nachwirkungen eher gering sind, wird bei guter Konstitution des Patienten eine sogenannte Frühanpassung wenige Tage nach der Operation vorgenommen. Der Soundprozessor wird dabei nur grob angepasst und läuft quasi auf Werkseinstellungen. Lediglich die Lautstärke wird eingestellt, damit das Hören nicht unangenehm ist. Die Erstanpassung erfolgt dann ein paar Wochen später – hierbei wird das Gerät individuell angepasst. Im Deutschen Hörzentrum dauert diese Anpassung insgesamt eine Woche – inklusive Hörtrainings und Beratungsgesprächen zu Zubehör. Auch ein Museumsbesuch steht auf dem Programm, wobei der Ton per Induktionsschleife direkt in den Soundprozessor gespeist wird. So sieht mein Wochenplan aus:

Das heutige Programm beginnt erst um 14 Uhr. Ich treffe vorher noch eine gute Freundin mitsamt meiner ErstBestenHälfte in Celle zum Frühstück und freue ich mal wieder, wie viel einfacher Unterhaltungen mit dem Cochlea-Implantat im Vergleich zum Hörgerät sind. Dann geht es nach Hannover zum Hörzentrum.

Meinen Ingenieur, der die Einstellungen des Soundprozessors vornimmt, kenne ich noch vom Beratungsgespräch Ende Juli, bei dem ich das für mich passende Implantat ausgewählt habe. Er ist überrascht, wie gut ich mit dem Hörimplantat schon hören kann und freut sich sehr – wie eigentlich alle Menschen, mit denen ich in den letzten Wochen zu tun hatte. Ich bekomme eine ausführliche Erläuterung des Ablaufs dieser Woche und dann wird der Soundprozessor neu vermessen. Ich muss dabei angeben, welche Lautstärke bei jeder der 12 Elektroden angenehm ist. Dazu werden Test-Töne auf die Elektroden gespielt und von mir auf einer Lautstärkeskala eingestuft. Das Implantat funktioniert so, dass bei höherer Lautstärke mehr Strom fließt – bei einem lauten tiefen Ton wird also die entsprechende Tieftonelektrode mit einem starken Stromimpuls versorgt; bei einem leisen Ton fließt nur wenig Strom. Das Hörimplantat funktioniert also quasi wie eine Lobotomie, ist aber deutlich angenehmer. Unangenehm sind aber nur sehr laute Töne und der Soundprozessor ist gedeckelt. Das heißt: Eine bestimmte Lautstärke kann nicht überschritten werden. Tolle Sache: Ich kann nicht mehr wegen zu lauter Musik schwerhörig werden.

Das Hören selbst fühlt sich nicht elektrisch sondern ganz normal an – so normal, wie ich es mir halt vorstellen kann, was nach 40 Jahren mit Hörgeräten nicht einfach ist. Ich höre weder roboterhaft noch habe ich das Gefühl, unter Strom zu stehen. Es hört sich einfach ganz normal an.

Dann werden verschiedene Programme auf den Soundprozessor gespielt, die ich per Fernbedienung auswählen kann:

  1. Das Standard-Hörprogramm
  2. Eine Audiozoom, der Geräusche von der Seite und von hinten stark herunterfährt und alle Hörkraft nach vorne richtet. Zwar ist der Soundprozessor standardseitig so eingestellt, dass die meiste Hörkraft nach vorne gerichtet ist (etwa 70%), aber dieses Programm verstärkt diese Hörrichtung noch und dämpft alles andere herunter. Das ist dann hilfreich, wenn ich mich in lauten Umgebungen unterhalten will. Vor allem in Restaurants oder Cafés, in denen viel Gesabbel von hinten und von den Seiten kommt, verstehe ich damit besser.
  3. Ein Programm für Rundum-Hören, auch omnidirektionales Hörprogramm genannt. Dieses Programm macht genau das Gegenteil wie das zweite: Es nimmt den Schall von allen Seiten gleichmäßig auf. Das kann ein Vorteil bei Musik sein oder auch dann, wenn ich mich irgendwo befinde, wo der oder die Sprecher/in auch mal rechts oder links von mir oder hinter mir steht.
  4. Ein Programm mit der bisherigen Höreinstellung, die ich bislang genutzt habe – um vergleichen zu können, inwieweit sich Verbesserungen einstellen.

Das neue Standardprogramm klingt auf Anhieb besser. Zisch- und Klackergeräusche sind etwa reduziert und alles hört sich etwas ausgewogener an. Das omnidirektionale Programm teste ich später im Auto mit Musik – es klingt etwas voluminöser, scheppert dafür in den hohen Frequenzen aber wieder etwas mehr.

Ich erfahre heute auch, warum die Teleschlinge, mit der ich das Smartphone oder Laptop kabellos mit dem Soundprozessor verbinden kann, deutlich schlechter klingt als die direkte Kabelverbindung. Die Teleschlinge nutzt die T-Spulen-Technik zur Übertragung, die zwar ein Standard aber sehr alt ist und deutlich weniger Signale übertragen kann als neuere Technologien wie z.B. Bluetooth. Bleibt zu hoffen, dass Med-El schnell eine drahtlose Lösung anbietet, die besser funktioniert und auf dem aktuellen Stand der Technik ist.

Die Hybridfunktion meines Soundprozessors, der gleichzeitig auch als Hörgerät fungieren kann und dabei tiefe Töne in das Ohr spielt, während die höheren Frequezen direkt auf die Hörnerven gespeist werden, kann ich wegen meines hohen Hörverlustes wahrscheinlich nicht nutzen. Das ist mir aber egal – der Sound ist auch ohne dieses Features ausgezeichnet und ich vermisse die Otoplastik im Ohr kein bißchen.

Interessant ist, dass man die Lautstärke der Umgebungsgeräusche bei einer Direktverbindung vom Smartphone oder Laptop zum Soundprozessor per Audiokabel nicht per Fernbedienung oder Programmierung steuern kann. Mir sind die Umgebungsgeräusche zu laut; das ist beim Telefonieren und auch beim Schlagzeugspielen suboptimal. Ich erfahre aber, dass es zwei unterschiedliche Audiokabel gibt: Das von mir genutzte gelbe Kabel, bei dem das Verhältnis direkter Input über Kabel – Umgebungsgeräusche bei 50/50 liegt, und ein rotes, das den Input im Verhältnis 90/10 verteilt. Dieses wird dann auch gleich bestellt; die Krankenkasse übernimmt hierfür die Kosten.

Nach der technischen Anpassung geht es zur ärztlichen Untersuchung im Hörzentrum. Diese wird gemacht, um zu schauen, ob die Operationsnarbe gut verheilt ist, der Gleichgewichtssinn funktioniert und ob es sonstige etwaige Beschwerden gibt. Ich habe Gottseidank überhaupt keine Probleme und fühle mich fit wie ein Turnschuh. Ich spreche auch gleich die gewünschte Implantation auf dem linken Ohr an, werde aber etwas gebremst, weil diese im Durchschnitt erst nach 6 Monaten gemacht wird, wenn sich der Patient an das elektronische Ohr gewöhnt hat. Das ging bei mir allerdings deutlich schneller. Wir verabreden, dass wir das Thema am Ende dieser Erstanpassungswoche noch einmal ansprechen und dann überlegen, wie schnell eine zweite Implantation machbar ist.

Am Abend fahre ich in die Hannoveraner City, kaufe ein bißchen Klamotten ein – auch dies ohne Verständnisprobleme an der Kasse – und gehe dann bei Vapiano essen. Das ist eine italienische Restaurantkette, die gerade enorm in ist. Die Gerichte werden hier ähnlich wie bei Subway direkt vor der Nase des Kunden zubereitet und man kann auswählen, welche Zutaten man haben möchte. Ich habe dieses Restaurant bislang gemieden, weil ich die Fragen des Kochs oder der Köchin, was ich denn ins das Gericht reinhaben möchte, schlecht verstanden habe. Auswahlrestaurants sind für hörgeschädigte Menschen ein echtes No-Go. Mit Hörimplantat klappt das aber prima. Leider sind die Linguine Carbonara Salmone komplett versalzen und die Nudeln matschig. Da suche ich mir dann in Zukunft doch lieber einen kleinen Italiener, der vernünftig kochen kann.

Tag 32 – Flohmarkt

Heute geht es früh aus den Federn, weil ich mit der ErstBestenHälfte zum Flohmarkt nach Stade fahren möchte – der schönste Flohmarkt Norddeutschlands, der sich durch die Stader Altstadt zieht. Wir beide mögen Flohmärkte sehr gerne. Als Junior I und II noch kleiner waren, haben wir viele Kinderklamotten auf dem Flohmarkt gekauft. Und Spielzeug – Spielzeugautos, viele Kinderbücher, Playmobil und Lego. Damals bekam man Legoteile auch noch günstiger als im Geschäft. Heutzutage findet man nur noch Sammlerstücke, weil sich die Verkäufer an den Mondpreisen auf ebay orientieren und muss den Kindern erklären, dass 200 Euro für ein gebrauchtes, abgelutschtes Lego-Set (das man im Laden aber nicht mehr bekommt und das in 10 Jahren drölfmal so viel wert sein wird!) einfach zu viel sind. Flohmarktbesuche sind immer ein bißchen wie Zeitreisen in die Vergangenheit – ich sehe zum Beispiel oft Matchbox-Autos, die ich als Kind hatte. Oder Schallplatten, Gesellschaftsspiele und alte Bücher, an die ich mich noch erinnern kann. Wir kaufen eigentlich nie viel, aber haben immer Spaß.

Vorher trete ich allerdings erst einmal ohne Schuhwerk auf eine am Boden sitzende Hornisse, die sich mit einem beherzten Stich in meine Fußsohle bedankt. Das tut wirklich weh. Gottseidank verkrafte ich Insektenstiche relativ gut und nach 15 Minuten Eiskompresse fahren wir dann los. Schade, dass ich das Ding nicht gehört habe. Vielleicht rufen Hornissen in so einer Situation ja „Oh shit“ auf Hornissisch – kurz bevor mein Fuß sie trifft und ich meinerseits „Oh shit“ rufe. Oder machen irgendeinen erschrockenen Laut in einer für Menschen unhörbaren Frequenz – ähnlich wie Fledermäuse. Rein technisch müsste es doch eigentlich möglich sein, solche Geräusche wahrzunehmen und in einen für mich hörbaren Ton umzuwandeln. Für die Hornisse wäre das ebenso praktisch wie für mich – denn sie hat ebensowenig Lust darauf, zertreten zu werden wie ich darauf, mit geschwollenem Fuß über den Flohmarkt zu humpeln.

Diese Idee, wenn auch noch etwas schräger, hatte vor Jahren der englische Schriftsteller Roald Dahl, der durch seine makabren Kurzgeschichten bekannt geworden ist und den ich sehr gerne lese. In seiner Kurzgeschichte „Der Lautforscher“ geht es um einen Erfinder, der eine Maschine baut, mit der er genau solche für Menschen unhörbaren Frequenzen in hörbare Töne umwandeln kann und damit Pflanzen schreien hört – Rosen, die geschnitten werden, ein Baum in den eine Axt gehauen wird, ein Kornfeld, das von einem Mähdrescher gemäht wird… ich möchte an dieser Stelle nicht vorweg nehmen, was am Ende passiert. Am besten selber Lesen; die Geschichte findet sich in Roald Dahls Buch „… und noch ein Küsschen„.

Ich bin letzte Woche dem von Enno Park gegründeten Verein Cyborgs e.V. beigetreten, der sich unter anderem mit Fragen dieser Art beschäftigt. Wem gehört ein Implantat? Wer darf es verändern? Wie weit darf die Technik gehen? Warum soll man keine Fledermäuse oder Hornissen hören können? Das sind spannende, wenngleich teilweise auch schräge Debatten mit philosophischem Hintergrund. Implantationstechnik schreitet immer weiter voran und unsere Gesellschaft wird zwangsläufig mit solchen Fragen konfrontiert werden. Ich freue mich sehr auf spannende Diskussionen zu diesem Thema.

Der Flohmarkt war trotz des guten Wetters zwar nicht so gut besucht wie erwartet, aber es hat trotzdem Spaß gemacht. Zum wiederholten Mal bin ich dort auf mein Cochlea-Implantat angesprochen worden und gab gerne und bereitwillig Auskunft. Es mag nicht jedermanns Sache sein, wegen eines Hörimplantats von wildfremden Menschen angesprochen zu werden. Ich hatte bislang allerdings immer sehr nette Gesprächspartner, die keinesfalls aufdringlich waren und einfach wissen wollten, ob dies auch etwas für eine hörgeschädigte Person aus ihrem Bekanntenkreis sein könnte oder wie gut ich damit höre, weil sie auch jemanden kennen, der ein CI hat. Ein Cochlea-Implantat fällt auf – zumindest wenn man Glatze hat und die äußeren Teile weiß sind. Ich möchte auch, dass es auffällt, weil sich meine Umwelt dann besser und schneller auf mein schlechtes Hören einstellen kann.

Was mich persönlich letztendlich dazu gebracht hat, den Schritt vom Hörgerät zum Implantat zu machen, war eine Flohmarktbegegnung im Frühjahr dieses Jahres. Ich sah dort einen Familienvater – ebenfalls mit weißem Soundprozessor und Spule am Kopf – und sprach ihn auf sein Implantat an. Das Gespräch war sehr nett und aufschlussreich und vermutlich war es das, was mir den letzten Schub gegeben hat, diesen Schritt zu wagen. Lieber CI-tragender Familienvater aus Zeven: Wenn Du das hier liest: Danke vielmals für das motivierende Gespräch! Ich hoffe, wir sehen uns irgendwann mal wieder. Dann verstehe ich auch Deinen Namen und gebe einen aus.

Tag 31 – Trauma

Wir hatten über die gestrige Nacht bis heute Mittag Besuch: die vier Kinder einer Nachbarin, die sich sehr darüber freute, mal alleine mit ihrer ZweitBestenHälfte (ZBH – das ist der jeweils männliche Part einer ErstBestenHälfte, kurz: EBH) feiern gehen zu können. Eines davon ist der beste Freund von Junior I. Das hochpubertäre Alter ist aus Babysittersicht – aber auch nur aus dieser!!! – pflegeleicht. Man braucht zur Beschäftigung nur eine Spielkonsole, ordentlich WLAN, eine Flasche Cola und Süßigkeiten. Auch wenn diese Methodik während meines Pädagogikstudiums (Nebenfach) nicht behandelt wurde und man sich als Student hüten sollte, so etwas auch nur vorzuschlagen, werden die meisten Eltern mit hochpubertären Jungs dieses Vorgehen durchaus verstehen. Die eigenen Nerven sind schließlich limitiert und solange das Kind viel Sport und Musik macht, kann man das am Wochenende schonmal machen – zumal die Spielezeit in der Woche nach hartem Kampf limitiert ist.

Die ErstBesteHälfte kümmert sich um das Schnullerkind und ich halte die beiden mittleren Grundschulkinder mit Klavier, Schlagzeug und dann auch etwas Tablet-Spielen auf Trab. Und das klappt gut. Ich mag Kinder gerne, aber habe sie immer schlecht verstanden. Die meisten Kinder artikulieren nicht sehr deutlich und werden unsicher, wenn man sie nicht versteht. Das hat früher oft zu schwierigen Situationen geführt. Unvergessen ist mein Versuch, die Kinder einer Freundin nach dem Spielen bei uns nach Hause in den Nachbarort zu bringen. Beide saßen gut gesichert auf der Rückbank. Ich hatte leider die Adresse nicht mehr im Kopf und bin dann etwa 5 mal am Haus vorbei- bzw. um das Haus herumgefahren, weil ich die immer verzweifelter werdenden Anweisungen von hinten nicht verstand. Gottseidank haben beide dieses Trauma gut verkraftet. Seitdem fahre ich kein Kind mehr ohne Navi plus eingegebenem Zielort nach Hause.

Mit dem Hörimplantat ist das einfacher. Ich verstehe Kinder zwar immer noch schlechter als Erwachsene, aber deutlich besser als mit Hörgerät. Zum Taxifahrer wird es vermutlich nicht reichen, aber man kann nicht alles haben.

Am Nachmittag steht wieder eine Tennis-Session auf dem Plan. Ich spiele auch heute mit dem Soundprozessor und es ist schön, dass ich die Korrekturanweisungen meines Spielpartners und Trainers jetzt besser verstehe und nicht jedesmal ans Netz rennen muss. Auch schön ist der Klönschnack nach und vor dem Spiel – Small Talk macht mir immer mehr Spaß. Mit Hörgeräten war es in den meisten Fällen einfach nur frustrierend.

Während des Spiels bekomme ich übrigens zwei Sprachnachrichten meiner ErstBestenHälfte, die ich nach mehrmaligem Anhören einwandfrei verstehen kann. Schwierigkeiten habe ich mit übertriebenen Betonungen. Wenn beispielsweise anstatt „Tina“ „Tinaaaaaa“ gesagt wird, komme ich ins Schleudern.

Am Abend machen wir einen kurzen Abstecher zum örtlichen Erntefest. Ich treffe einige Dorfbewohner, die mich seit der Implantation noch nicht gesehen haben und alle freuen sich sehr über den Erfolg dieser Operation. Ich kann mich gut unterhalten und höre endlich, warum Dorfbewohnerin I mit Dorfbewohnerin II nicht mehr grün ist, weil Dorfbewohnerin III der Cousine von Dorfbewohnerin I gesagt hat, dass die Schwiegermutter von Dorfbewohnerin II im Supermarkt über Dorfbewohnerin IV gelästert hat. Und warum Kind I Kind II vors Schienenbein getreten hat, nachdem Kind III… den Rest habe ich vergessen. Es war trotzdem ein schöner Abend.